Porträt der Woche

Zu Hause in Frankfurt

»Als ich jung war, ging ich fort, um herauszufinden, wo mein Platz ist«: Miriam Speier (55) Foto: Rafael Herlich

Porträt der Woche

Zu Hause in Frankfurt

Miriam Speier arbeitet im Familienunternehmen und engagiert sich bei der WIZO

von Annette Kanis  06.10.2021 11:55 Uhr

Geboren und aufgewachsen bin ich in Frankfurt am Main, und bis heute ist diese Stadt mein Zuhause. Ende 1965 kam ich als erstes Kind meiner Eltern zur Welt. Zusammen mit meinen beiden jüngeren Brüdern wuchs ich sehr geliebt und behütet auf. Meine Großeltern hatten mit vielen Schwierigkeiten und durch viele Wunder zusammen mit ihren Kindern die Schoa überlebt, und so hatte ich das große Glück, sie während meiner Kindheit noch alle vier um mich haben zu können.

Eingeschult wurde ich 1971 in die I. E. Lichtigfeld-Schule, die Grundschule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, kam danach auf ein öffentliches Gymnasium und ging nach meinem Abitur 1984 zum Psychologiestudium in die USA. Während meines Studiums war ich für zwei Jahre in den USA und ein Jahr in Israel. Es war eine sehr interessante Zeit, aber nach dem Studium bin ich auch gerne wieder nach Frankfurt zurückgekommen, weil ich gemerkt habe, dass ich mich hier doch am wohlsten fühle.

Rückkehr Nach meiner Rückkehr nach Frankfurt habe ich noch ein Tourismus-Studium in Frankfurt abgeschlossen und anschließend einige Monate in der Literaturhandlung von Rachel Salamander in München gearbeitet. Einige Zeit später habe ich begonnen, in unserem Familienunternehmen, einer Liegenschaftsverwaltung, mitzuarbeiten. Nach einer längeren Pause, während der meine drei Kinder klein waren, arbeite ich dort wieder seit 2009.

Meine Eltern sind Kriegskinder mit unterschiedlichen Schicksalen.

Ende der 80er-Jahre habe ich bei den Demonstrationen zum Erhalt der Funde der Judengasse am Börneplatz in Frankfurt meinen späteren Mann, den Psychoanalytiker Sammy Speier, kennengelernt, der zwei Kinder aus seiner ersten Ehe mit in unsere Beziehung brachte. 1992 haben wir geheiratet; in den Folgejahren wurden unsere beiden gemeinsamen Söhne und unsere Tochter geboren.

Im Juni 2003 verstarb mein Mann. Für seine fünf Kinder und mich war das eine sehr schwere Zeit, in der wir viel Hilfe, Zuspruch und Wärme von unserer Familie und unseren Freunden erfahren haben, sodass wir trotz aller Trauer irgendwann wieder in unseren Alltag zurückfinden konnten.

GENERATIONEN Heute sind alle Kinder schon erwachsen, meine eigenen Kinder sind 28, 25 und 20 Jahre alt, meine beiden Stiefkinder sind verheiratet, und meine Stieftochter hat selbst drei Söhne. Ich liebe meine Patchworkfamilie. Wir diskutieren viel und gerne, wir lachen zusammen und unterstützen einander in allen Lebenslagen.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen meiner Generation und der meiner Kinder. Ich gehöre zur sogenannten Second Generation, der Zweiten Generation nach der Schoa. Meine Eltern sind Kriegskinder mit unterschiedlichen Schicksalen. Meine Mutter, die 1942 im Ghetto Warschau geboren wurde, überlebte bei einem warmherzigen polnischen Bauernpaar außerhalb des Ghettos und kam später wieder zu ihren Eltern zurück. Mein Vater, der 1943 geboren wurde, überlebte den Krieg zusammen mit seiner Familie in Kasachstan.

20 Jahre nach Kriegsende geboren, erinnere ich mich noch an die Ruine der Alten Oper und die anderen Ruinen, die zum Stadtbild Frankfurts gehörten. Als ich älter wurde, wollte ich woanders hin, um herauszufinden, wo mein Platz ist. So ging es fast allen meinen jüdischen Freunden nach dem Abitur. Manche sind auch weggeblieben. So auch mein jüngster Bruder. Er ist zum Studium nach Israel gegangen, hat dort geheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Tel Aviv.

IDENTITÄT Was unsere Identität betraf, waren wir früher immer hin- und hergerissen. Beim Fußball zum Beispiel wäre es niemals einem von uns in den Sinn gekommen, sich mit der deutschen Nationalmannschaft zu identifizieren, während sich dies heute für meine Kinder vollkommen richtig anfühlt. Ich hingegen musste erst regelrecht meinen Frieden damit machen.

Meine zwei Brüder und ich haben jeder eine andere Art, mit der Religion umzugehen.

Als mein ältester Sohn im Sommer 2009 bei der internationalen Makkabiade in Israel für die deutsche Makkabi–Fußballmannschaft mitspielte und wir Eltern sahen, wie unsere Kinder zum ersten Mal ganz stolz mit in den deutschen Nationalfarben eingesprühten Haaren aufs Feld liefen, da haben wir – in Israel! – zum ersten Mal laut »Deutschland, Deutschland« gerufen. Das war ein wichtiger und nachhaltiger Befreiungsschlag für mich.

Die neue Generation, auch das sehe ich an meinen Kindern, fühlt sich zunehmend mehr zu Hause in Deutschland. Daher trifft es sie besonders hart, wenn sie anhand zunehmender aggressiver judenfeindlicher Bemerkungen und Taten spüren, dass der Antisemitismus hier wieder salonfähiger wird. Es macht sie betroffener als seinerzeit meine Generation, denn wir haben damals latent immer mit solchen Ausfällen gerechnet.

TRADITION Der kulturelle Bezug zum Judentum ist mir sehr wichtig. Ich bin nicht religiös, sondern eher offen-traditionell geprägt. Das spiegelt sich auch in unserer Familie wider. Meine zwei Brüder und ich haben jeder eine andere Art, mit der Religion umzugehen.

Unsere insgesamt neun Kinder wiederum, von denen einige inzwischen schon erwachsen sind, haben auch jeweils ihren eigenen Umgang damit gefunden. Aber man trifft sich immer wieder bei der Tradition.

Meine Eltern, mein in Frankfurt lebender Bruder mit seiner Familie sowie alle meine Kinder und ich machen möglichst jeden Freitagabend zusammen Kabbalat Schabbat; der Erhalt dieses Ritus ist uns allen sehr wichtig. Es ist einfach eine sehr schöne, sehr familiäre Tradition.

Während der Schulzeit meiner Kinder war ich insgesamt acht Jahre ehrenamtlich als Schulelternbeirätin tätig.

Meine Kinder sind alle in den Kindergarten und danach in die Lichtigfeld-Schule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gegangen. Um die an dieser Schule angestrebte Vermittlung von Allgemeinbildung, Weltoffenheit, Toleranz und jüdischen Werten von Elternseite aus zu unterstützen, war ich insgesamt acht Jahre während der Schulzeit meiner Kinder ehrenamtlich als Schulelternbeirätin tätig.

In dieser Zeit konnten wir Eltern unter anderem zunächst bei der Einrichtung der zweijährigen Eingangsstufe und später dann bei der Erweiterung der Lichtigfeld-Schule um die Oberstufe mitwirken. Dieses Jahr konnte der erste Jahrgang hier Abitur machen – das war ein großer Meilenstein in der Geschichte der Schule und ein sehr bewegender Moment für mich.

EHRENAMT Nachdem meine Tätigkeit als Schulelternbeirätin mit dem Weggang meiner Tochter nach der neunten Klasse automatisch beendet wurde, habe ich begonnen, mich bei der WIZO Frankfurt zu engagieren. Seit 1992 bin ich dort einfaches Mitglied, 2019 wurde ich in deren Vorstand gewählt.

Im Vorstand – wir sind neun Frauen – hat jede von uns ihr Tätigkeitsfeld. Ich arbeite gerne mit Worten und Texten, und so bin ich grundsätzlich für das Schriftliche zuständig, redigiere, schreibe auch immer mal wieder selbst einen Artikel und arbeite in der Redaktion für unser jährliches WIZO-Frankfurt-Magazin mit.

Die Arbeit mit dem Frankfurter WIZO-Team ist sehr wichtig, facettenreich und zudem sehr erfüllend, weil wir wirklich wissen, was wir damit bewirken. Wir kennen sowohl die dortigen Projekte als auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter persönlich. Zweck und Ziel der dringend benötigten Spenden, die wir nach Israel schicken, sind komplett transparent.

ZUKUNFT Was ich immer schon machen wollte: Ich bin generell ein sprachbegeisterter Mensch – ich liebe Sprachen, vor allem den Zugang, den sie mir zu anderssprachigen Menschen und deren Kultur eröffnen. Vor knapp drei Jahren habe ich spontan beschlossen, wieder eine Sprache zu lernen, und mich für Spanisch entschieden. Eine Herausforderung, die mir großen Spaß macht und inzwischen auch schon ganz gut klappt. Und irgendwann in der Zukunft ist dann die nächste Sprache dran.

Zudem bin ich dabei, mir einen weiteren Traum zu verwirklichen: ein zweites Zuhause in Tel Aviv einrichten. Durch Corona haben sich die Möglichkeiten des Homeoffice deutlich vereinfacht und weiterentwickelt, sodass ich einen Großteil meiner Arbeit auch von Tel Aviv aus werde bewältigen können.

Mein Lebensmittelpunkt wird weiterhin in Frankfurt sein, aber ich freue mich auch sehr darauf, mehr Zeit als bislang mit meiner Familie und meinen guten Freunden in Israel verbringen und gleichzeitig auch mein Hebräisch verbessern zu können.

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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