Bielefeld

Zehn Jahre »Beit Tikwa«

Eine umgebaute evangelische Kirche: die Synagoge in Bielefeld Foto: dpa

Zwischen dem 9. November 1938 und dem 20. September 2008 war jüdisches Leben in Bielefeld kaum sichtbar. Nach dem Krieg fanden die wenigen verbliebenden Juden der Stadt eine unauffällige Heimstatt in einem Wohnhaus, das einst der jüdischen Gemeinde gehörte und ihr in den frühen 1950er-Jahren wieder zurückgegeben wurde.

Am 21. September 2008 änderte sich das. Fast 70 Jahre nach dem NS-Pogrom und dem Brand der 1905 eröffneten Synagoge bezog die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld wieder einen repräsentativen Bau: eine umgebaute evangelische Kirche. Der Synagogenbezug vor zehn Jahren wurde jetzt gefeiert. Mit dabei waren unter anderem der Vizepräsident des Zentralrats der Juden und Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, Abraham Lehrer, und NRW-Landtagspräsident André Kuper.

Sicherheitsvorkehrungen Aus der Existenz des prächtigen Baus zu schließen, dass jüdisches Leben in der Stadt wieder selbstverständlich ist, wäre jedoch ein Fehler. Denn während christliche Kirchen und islamische Moscheen keine aufwendigen Schutzvorkehrungen brauchen, muss die Synagoge mit Zugangsschleuse, Kameratechnik, Mauer und Zaun sowie Polizeipräsenz gesichert werden. Außerdem verzichten viele Juden aus Vorsicht auf öffentliche Bekenntnisse zu ihrer Religion, wie etwa das Tragen einer Kippa.

Alle Redner der Feier in der Synagoge »Beit Tikwa« – Haus der Hoffnung – gingen darauf ein. Kuper versprach: »Wir teilen die Hoffnung auf ein Ende von Antisemitismus und Judenhetze in unserem Land, und wir werden hart dafür arbeiten.« Lehrer lobte das Landesparlament dafür, dass es jüngst fraktionsübergreifend die sogenannte BDS-Kampagne als antisemitisch bezeichnete. Die Kampagne ruft zum Boykott israelischer Waren auf. Die Ächtung »macht mir Hoffnung«, sagte Lehrer.

Etwa 300 Mitglieder zählt die 1705 gegründete Gemeinde wieder; mehr als 95 Prozent sind seit dem Jahr 2000 eingewandert aus dem Gebiet der 1991 auseinandergefallenen Sowjetunion. Ablehnung ist ihnen nicht fremd, sie stellen sich darauf ein. »Wir raten den Mitgliedern, auf das Tragen des Davidsterns um den Hals oder einer Kippa in der Öffentlichkeit zu verzichten«, sagt die Vorsitzende Irith Michelsohn.

Dialog Dabei versuchen die Aktiven der Gemeinde alles, um Vorurteile abzubauen, aufzuklären und Freundschaften zu schließen. Michelsohn war jüngst mit einer Gruppe von Muslimen in Auschwitz. Sie und andere jüdische Gemeindemitglieder arbeiten mit Flüchtlingen aus arabischen Ländern; Jugendleiter Ilja Egorov begleitet Begegnungen von jüdischen Kindern mit nichtjüdischen Altersgenossen. Dennoch: »Die Aufklärung ist sehr mühsam«, sagt Michelsohn. »Immer wieder werden wir in einem Topf mit der israelischen Regierung geworfen.«

Die Vorsitzende der Gemeinde erntete viel Anerkennung für ihren Einsatz, der dazu führte, dass aus der einstigen Paul-Gerhardt-Kirche eine Synagoge wurde. Sie war die treibende Kraft. Die Immobilie wurde für etwa 2,5 Millionen Euro vom Kirchenkreis Bielefeld an die Kultusgemeinde verkauft. Damals gab es auch Widerstand von Christen wie Juden gegen das Vorhaben. Es war der erste Umbau einer Kirche zur Synagoge in NRW und einer der ersten in Deutschland. »Sie haben Geschichte geschrieben und ein offenes Haus geschaffen«, sagte Kuper an Michelsohn gerichtet. »Der Schritt war ein nachhaltiger Erfolg«, ergänzte Zentralratsvizepräsident Abraham Lehrer.

Seit Bezug der neuen Synagoge floriert das jüdische Leben hinter Schleuse und Mauer. Innen lernen Kinder und Jugendliche spielerisch die Traditionen und Werte des liberalen Judentums, dort beten, essen und feiern die Mitglieder. »Beit Tikwa« gehört zu den liberal oder progressiv genannten jüdischen Gemeinden. Laut Sonja Guentner, Vorsitzende der Union der progressiven Juden in Europa, stellen diese mit zwei Millionen Menschen in den Mitgliedsgemeinden die größte Bewegung innerhalb des Judentums dar.

Geburtstag

Holocaustüberlebende Renate Aris wird 90

Aris war lange stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz und Präsidiumsmitglied des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden. 1999 gründete sie den ersten jüdischen Frauenverein in den ostdeutschen Bundesländern

 18.08.2025

Projekt

Erhalten und sichtbar machen

Die ErinnerungsWerkstatt erforscht auf dem Neuen Israelitischen Friedhof jüdische Schicksale und bewahrt sie vor dem Vergessen

von Ellen Presser  18.08.2025

Münster

Wenn Musik tatsächlich verbindet

Wie ein Konzert die seit der Schoa getrennte Familie des berühmten Komponisten Alexander Olshanetsky wiedervereinte

von Alicia Rust  18.08.2025

Sachsen-Anhalt

Szenische Lesung zu jüdischer Familie Cohn in Wörlitz

Während der szenischen Lesung werde die Historie der beiden jüdischen Persönlichkeiten Moritz von Cohn und Julie von Cohn-Oppenheim mit einer Zeitreise ins 18., 19. und 20. Jahrhundert dargestellt

 18.08.2025

Porträt der Woche

Körper, Kopf, Gemeinschaft

Paz Lavie ist Israelin, Fitnesscoachin und Mamanet-Pionierin

von Gerhard Haase-Hindenberg  17.08.2025

Provenienz

Die kleine Mendelssohn

Lange Zeit galt sie als verschollen, nun ist die Stradivari-Geige wieder aufgetaucht. Doch die Restitution gestaltet sich problematisch

von Christine Schmitt  15.08.2025

Sport

Nach den Emotionen

Der Wechsel des deutsch-israelischen Fußballers Shon Weissman zu Fortuna Düsseldorf ist gescheitert. Er stolperte über seine Hasskommentare bei Social Media

von Ruben Gerczikow  14.08.2025

Nürnberg

Mit wem spiele ich heute?

Vor wenigen Wochen eröffnete die neue Kita »Gan Schalom« der Israelitischen Kultusgemeinde. Ein Besuch zwischen Klanghölzern, Turnmatten und der wichtigsten Frage des Tages

von Stefan W. Römmelt  14.08.2025

Berlin

Mann reißt israelische Flagge vor Synagoge ab

Der Polizeiliche Staatsschutz ermittelt wegen Hausfriedensbruch

 13.08.2025