Gemeinden

»Wir werden hier beschützt«

»Als Juden in Deutschland können wir sehr selbstbewusste Staatsbürger sein«: Foto: Benush Martinez

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»Wir werden hier beschützt«

Seit 1980 ist Michael Fürst Präsident des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. Ein Gespräch übers Weitermachen, Demokratie und alte Bücher, die wieder aktuell sind

von Katrin Richter  03.08.2025 10:56 Uhr

Michael Fürsts Büro ist nicht nur eine klassische Kanzlei: Es ist auch ein bisschen Galerie, Bibliothek, ein Ort mit vielen Erinnerungen. Fürst mit dem Großen Verdienstkreuz des Landes Niedersachsen als Foto, Urkunden – darunter die als Botschafter für Demokratie und Toleranz mit Yazid Shammout, dem Vorsitzenden der Palästinensischen Gemeinde, eine große Chanukkia und viele Familienbilder. Seit 1980 ist Michael Fürst, der in Hannover geboren wurde und als Fachanwalt für Medizinrecht arbeitet, Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. Viele Jahre war er Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. Anfang Mai gab er den Vorsitz auf, ist aber weiterhin Repräsentant. Kürzlich hieß es, er wolle auch seinen Vorsitz im Landesverband aufgeben. Daher die Frage:

Herr Fürst, Sie hören auf – warum?
Nein, das stimmt ja so gar nicht. In irgendeinem dieser üblichen Gespräche mit Journalisten habe ich mal geäußert, dass ich auch mal ans Aufhören denken muss. Auch, wenn alle nicht wollen, dass ich aufhöre. Aber irgendwann muss man einfach. Und meine Entscheidung war, dass ich mit dem Gemeindevorsitz aufhöre. Ich möchte mich nicht mehr mit diesem ganzen Kleinkram, mit Wasserhähnen und Mietern und Reparaturen befassen. Das ist nicht mehr mein Ding, das sollen Jüngere machen oder Leute, die das bisher noch nicht gemacht haben. Da kommen vielleicht neue Ideen – im Lauf der Jahrzehnte nutzt man sich auch ab. Außerdem war die Kulturarbeit in der Gemeinde nie mein Ding. Die Verbandsarbeit, die politische Arbeit, die Arbeit mit den Polizeibehörden, Gewerkschaften, den Kirchen und Islamverbänden, dem Innenminister, dem Kultusminister, dem Ministerpräsidenten; die war immer das, was ich gewollt und gemacht habe. Und die mache ich noch weiter. Bis 2027 bin ich gewählt, aber da werde ich ja erst 80. Dann sehen wir weiter, so Gott will. Aber bis ans Lebensende werde ich ganz sicher nicht bleiben.

Ist Ihnen die Abgabe des Gemeindevorsitzes schwer- oder leichtgefallen?
Die Gemeinde habe ich eigentlich sehr spät erst hinzubekommen, weil der damalige Vorsitzende 2007 ausscheiden musste. Das ist jetzt fast 20 Jahre her. Leicht ist es mir wahrlich nicht gefallen, weil ich als das älteste Gemeindemitglied natürlich eine Verantwortung für die Gemeinde sehe.

Das ist schon eine lange Zeit …
Ja, und auch wieder nicht. Sehen Sie, ich bin ja nun Hannoveraner durch und durch. Meine damalige Freundin Gabi Giske und ich waren die ersten hier geborenen jüdischen Kinder, und 1970 haben wir in der neuen Synagoge geheiratet. Das war natürlich etwas Besonderes. Mein Vater ist schon hier geboren, ich war mit Ausnahme des Studiums, der Referendarzeit und natürlich auch meiner zweijährigen Bundeswehrzeit immer hier – Vollblut-Hannoveraner mit allem, was dazugehört. Ich habe gerade mit meinem Bruder telefoniert, und wir haben beide festgestellt, dass wir im kommenden Jahr 70 Jahre Mitglieder bei Hannover 96 sind.

Sie waren 18 Jahre lang Gemeindevorsitzender. Was mögen Sie an Ihrer Gemeinde?
Was ich an der Gemeinde mochte, das war der Zusammenhalt – und ich glaube aber, das gilt für alle, die in meinem Alter und hier in Deutschland groß geworden sind. Man kannte sich. Wir waren im Nachkriegsdeutschland zunächst zwei Gemeinden, die zusammengewachsen sind: die große jüdisch-polnische Gemeinde, die meisten Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, und die kleine deutsche, die wenigen Überlebenden, die zurück nach Hannover gekommen waren, wie zum Beispiel mein Vater. Wir feierten alle Feste zusammen, machten gemeinsame Ausflüge, wir Kinder spielten gemeinsam. Ich bin nun ein deutscher Jude, und die wenigen deutschen jüdischen Kinder sind anders aufgewachsen als ihre polnischstämmigen jüdischen Gleichaltrigen, heute würde man sagen, sie sind anders sozialisiert worden.

Inwiefern?
Wir haben zu Hause nicht ständig über die Vergangenheit geredet. Meine Eltern haben genauso ein Schicksal wie alle anderen auch. Mein Vater kam 1941 mit seinen Eltern nach Riga. Er hat Salaspils, Lenta und andere Lager überlebt, meine Großeltern sind dort ermordet worden, er hat aber nie über sein Schicksal geklagt. Ja, meine Mutter hat ein ganz anderes Schicksal gehabt. Sie kam aus einer »gemischten Ehe«. Mein Großvater war Lehrer, hat sich trotz erheblichen Drucks nicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen und wurde 1937 »auf die Straße geworfen«. Die Urkunde über seine Entlassung mit Hakenkreuz und »Heil Hitler« verwahre ich gut auf. Er musste sich dann mit seiner Familie – mit seiner jüdischen Frau und den »halbjüdischen« Kindern – durchschlagen. Meine Großmutter Henny hat glücklicherweise Theresienstadt überlebt. Wenn ich gefragt wurde: »Bist du Jude oder Deutscher?«, habe ich nie gewusst, was ich sagen sollte: denn ich war ja beides. Und wenn mich jemand gefragt hätte: »Hältst du zu Deutschland oder zu Israel?«, wenn sie gegeneinander Fußball gespielt haben, war ich auf der Seite für den kleinen David – Israel. Andererseits, wenn Deutschland gewonnen hat, habe ich mich nicht geärgert. Das war schon eine etwas merkwürdige Zeit damals. Aber: Wir haben eben nicht ständig die Geschichte der Verfolgung, der Ermordung nach vorne gestellt. Meinen Eltern war die Zukunft wichtig, das war auch die Erziehungsmaxime, mit der mein Bruder und ich groß geworden sind. So habe ich auch meine beiden Töchter erzogen, und ich freue mich, dass meine beiden Enkelkinder ganz stark in der jüdischen Jugendarbeit verankert sind. Lenny ist der Rosh des Jugendzentrums in Köln.

Und das war bei Ihren polnischen Freunden anders?
Ja. Da musste nur irgendwo etwas Gemaltes eine Ähnlichkeit mit einem Hakenkreuz haben, schon war die Klasse antisemitisch. Ich wurde persönlich nie antisemitisch angegriffen, mein Vater auch nicht. Mein Bruder auch nicht. Ich sage das immer wieder. Ich stehe hier am offenen Fenster, keine Wache steht vor der Tür. Ich habe keinen Personenschutz. Ich brauche das hier nicht. Das heißt ja nicht, dass es keinen Antisemitismus gibt. Aber, ich versuche, meinen Gemeindemitgliedern und meinen Verbandsmitgliedern klarzumachen: Wir werden hier beschützt. Unser erster Schutz ist die Gesellschaft. Und unser zweiter Schutz sind die Polizeibehörden. Ich habe stets offene Türen und offene Ohren für jeden. Ich lebe »mental« nicht hinter Mauern oder Türschleusen.

Treffen Sie mit diesem Vertrauen in die Gesellschaft und in die Polizei in der Gemeinde auf offene Ohren?
Man macht mir manchmal den Vorwurf, dass ich das zu einfach sehe. Nur: Es ist ja nicht so, dass ich nicht weiß, was Angst ist. Angst ist etwas sehr Subjektives. Deswegen kann man auch keinem vorwerfen, wenn jemand Angst hat, und sagen: »Du bist ein Idiot.« Wenn man mir aber vorwirft, ich machte es mir vielleicht zu einfach, dann kann ich doch nur darauf hinweisen, dass hier nichts passiert ist. Ja, wir haben natürlich – wie in allen anderen deutschen Großstädten – auch palästinensische Kundgebungen für ein freies Palästina, für die Menschen im Gazastreifen, aber es sind keine antisemitischen Aufrufe, jedenfalls nicht aus der Gruppe der niedersächsischen Palästinenser.

Sie sind seit vielen Jahren mit Yazid Shammout befreundet, dem Vorsitzenden der Palästinensischen Gemeinde. Wie reagiert er auf die teils antiisraelischen Demonstrationen?
Diese palästinensischen … ich nenne sie mal Auswüchse –, die teilweise auch hierher kommen, haben mit seiner Gemeinde, das ist nicht nur Hannover, das ist Niedersachsen, nichts zu tun. Sie werden bei einer Vielzahl dieser palästinensischen Demonstrationen ein und dieselben Personen finden, die quer durch Deutschland reisen und von einer starken linksradikalen Community unterstützt werden. Yazid und ich sind Freunde, und wir haben teilweise völlig unterschiedliche politische Auffassungen, aber das Entscheidende ist, dass wir einander respektieren und uns zuhören. Dafür haben wir vom Niedersächsischen Ministerpräsidenten wiederum den Integrationspreis 2016 erhalten.

Würden Sie sich wünschen, dass die palästinensische Community lauter ist, wenn es darum geht, jüdische Bekannte, Freunde zu unterstützen?
Nach dem 7. Oktober 2023 haben wir sehr schnell und sehr deutliche Bekundungen – auch von der palästinensischen Gemeinde – zu dem gehabt, was in Israel passiert ist. Ich kann das im Augenblick nicht erwarten. Ich tue mich momentan sehr schwer mit der israelischen Politik und habe meine Probleme, wenn es um den Zustand der über Jahrzehnte gewachsenen Demokratie in Israel geht. Ich mag mich da von vielen anderen jüdischen Verbandsvertretern unterscheiden, aber ich versuche – und als Jurist bin ich gewohnt, das zu tun – beide Seiten zu sehen. Man muss beide Seiten sehen. Ich befürchte, dass Israel mit dem jetzigen Verhalten der Regierung sehr stark an Bedeutung verlieren wird, seine moralische Integrität verliert, und das tut mir sehr weh.

Es gibt unter anderem eine Statistik der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), die besagt, dass Dinge, die im Nahen Osten geschehen, sich in Deutschland in antisemitischen Vorfällen widerspiegeln. 2024 waren es in Niedersachsen über 600 antisemitische Vorfälle. Steht das im Widerspruch zu Ihrem persönlichen Sicherheitsgefühl?
Nein, das steht überhaupt nicht im Widerspruch zu meinem persönlichen Sicherheitsgefühl. Jeder, der an verantwortlicher Stelle steht, muss damit leben, dass er beschimpft wird, unfreundliche, unhöfliche Briefe oder E-Mails erhält. Aber die ganz überwiegende Zahl der antisemitischen Vorfälle sind Internetvorfälle, E-Mails oder Briefe. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, zeigt der RIAS- Bericht 2024 als »echtes« kriminelles Delikt die Brandstiftung in Oldenburg auf, bei dem ein Molotowcocktail gegen die Synagogentür geworfen wurde. Aber nach Halle sind alle jüdischen Gemeinden oder Institutionen mit jüdischem Bezug sicherheitsmäßig stark aufgerüstet worden. Allerdings sehe ich durchaus den Antisemitismus, der nach dem 7. Oktober 2023 stark gewachsen ist.

Was macht Ihnen Sorge?
Dass eine Vielzahl der rechtslastigen Wähler, die derzeit noch von der CDU erfasst werden, weiter nach rechts abdriften. Wir dürfen nicht verkennen, dass derzeit ein riesiger Prozentsatz für die AfD stimmt, und dass wir – auch das muss man sich einfach immer wieder vor Augen halten – eine hohe Zahl von rechtslastigen Bürgern haben. Wenn die beiden Gruppen zusammenkommen, dann haben wir demnächst über 50 Prozent auf einmal. Und das ist die Gefahr, die ich in der Zukunft schon sehe. Aber ich glaube, dass wir noch Zeit haben, um das zu bekämpfen. Ich glaube schon, dass wir noch in der Lage sind, darauf Einfluss zu nehmen. Meine größte Sorge ist allerdings, dass wir das Schulsystem nicht hinbekommen, dass wir es nicht schaffen, unsere Kinder in den Schulen vernünftig zu erziehen. Die Schulen sind die Einzigen, die über Jahre hinweg die Möglichkeit hätten, was zu leisten. Das sage ich nicht in Richtung der Lehrer – ich weiß nicht, ob ich in der Lage wäre, heute als Lehrer tätig zu werden. Wir haben noch nicht den richtigen Weg gefunden, wie wir Kinder, die mit der Schoa nichts zu tun haben – weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht geboren waren, weil sie einen anderen Familienhintergrund haben –, an das Thema heranführen. Ein Besuch in einer Gedenkstätte reicht absolut nicht aus. Ist aber notwendig! Wir müssen ihnen die Stärke der Demokratie vermitteln und ihnen auch Demokratie beibringen. Sodass sie ein Gefühl dafür bekommen, was man tun darf und was man nicht tun darf, ohne ihnen das Denken zu verbieten. Gerade zum Denken wollen wir sie ja anleiten, und Meinungsfreiheit ist darüber hinaus ein sehr hohes Gut.

Sie sitzen vor einem Stapel Bücher. Was verbinden Sie damit?
Meine hebräische Lesefibel aus meiner Kindheit ist zum Beispiel dabei. Die haben meine Eltern, ohne dass ich das wusste, für ihre Enkel und Urenkel aufgehoben. Oder ein Gedenkbuch für gefallene jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs. Oder die Kriegsbriefe jüdischer Soldaten des Ersten Weltkriegs. Zu diesem Thema habe ich einen besonderen Bezug als Ehrenvorsitzender des Bundes Jüdischer Soldaten und als erster Jude in der Bundeswehr des Nachkriegsdeutschlands. Kürzlich fiel mir wieder ein Buch von Chaim Weizmann in die Hände, »Israel und sein Land«. Die Lektüre ist erstaunlich aktuell. Sie haben dieselben Probleme schon vor 100 Jahren gehabt. Das ist wie heute geschrieben – mit einem Vorwort von Albert Einstein. Wir sind genauso weit wie vor 100 Jahren.

Ist das gut oder schlecht?
Ich will das gar nicht bewerten. Viele unserer heutigen Probleme haben wir auch vor 100 Jahren schon gehabt. Aber als Juden in Deutschland können wir sehr selbstbewusste Staatsbürger sein. Wir werden auch die jetzigen Probleme überleben.

Mit dem Präsidenten des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen sprach Katrin Richter.

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