Frau Kraus, Sie arbeiten derzeit an einem Projekt mit dem Titel »Wir! Sind! Hier! Ein fotografisches Dennoch«. Dafür lichten Sie Holocaust-Überlebende zusammen mit ihren Enkeln oder Urenkeln ab. Was ist der Anlass?
Am 20. Januar 1942 organisierten 15 Männer die Ermordung von elf Millionen Juden bei der Wannsee-Konferenz. Im kommenden Januar liegt das 80 Jahre zurück – aus diesem Anlass entsteht das Projekt in Berlin, bevor es in andere Länder reist. An die Täter erinnert sich außer Historikern kaum noch jemand, aber die Überlebenden, Enkel und Urenkel sind heute noch unter uns. Sie sagen: »Wir sind hier« und setzen damit einen starken Kontrapunkt zu dieser Tat.
Wie wird die Ausstellung gestaltet sein?
In der Mitte der Installation steht ein symbolischer Konferenztisch mit einem Exemplar des Konferenzprotokolls in der jeweiligen Landessprache des Ausstellungsortes. Die lebensgroßen Porträts der Überlebenden stehen im Kreis um den Tisch und schauen gemeinsam mit Enkeln oder Urenkeln auf dessen leere Stühle – die Stühle der Täter. Sie blicken sowohl auf den Tatort als auch auf den Tatplan. Die Täter sind nicht mehr da – aber die Überlebenden schon. Sie sind hier.
Was erfährt man von ihnen?
In dem Begleitband werden ihre Biografien vorgestellt, darin besonders ihre Überlebensgeschichte und ihre Gedanken zur Wannsee-Konferenz. Auf den Stelen neben jedem Porträt werden einige der Gedanken auch in der Installation festgehalten – und richten sich auf den symbolischen Tatort.
Was ist das Besondere an Ihrer Kamera?
Ich arbeite mit einer IMAGO-Kamera – einer begehbaren Großformatkamera, in deren Innenraum man sich ohne Fotograf aufhält. Das Bild, ein lebensgroßes Ganzkörperporträt, entsteht im Inneren der Kamera ohne Negativ und wird direkt auf das Fotopapier projiziert. Diese Kamera schafft unnachahmliche Schwarz-Weiß-Porträts und eine Präsenz, die man mit Worten schwer beschreiben kann. Dieser Effekt berührt die Betrachter der Bilder, er hinterlässt Eindrücke, die man nicht zuklappen kann. Wir zeigen den – nicht zwingend historisch vorgebildeten – Besuchern, dass die Schoa kein Geschichtsbuchthema aus ferner Zeit ist. Der Nationalsozialismus ist Vergangenheit. Die Überlebenden aber sind noch unter uns, sie legen Zeugnis ab – und ihre Enkel und Urenkel zeigen, dass jüdisches Leben Normalität ist und bleiben wird.
Wie finanzieren Sie das Projekt?
Wir haben Fördermittel beantragt, ein Teil der Kosten an den Ausstellungsorten wird von lokalen Partnern getragen, vor allem aber wird das Projekt durch Spenden realisiert. Wir hoffen auf weitere Spenden von Unternehmen und Privatleuten – es ist ja nicht mehr allzu lang bis zum 20. Januar.
Mit wem arbeiten Sie zusammen?
Als Fotografin interessieren mich Menschen, in deren Familien das Trauma der Schoa präsent ist. Gleichzeitig halte ich es für wichtig, den Überlebenden und ihren Familien mit Sensibilität zu begegnen, aber auch historisch präzise zu sein. Deshalb haben wir Historiker an Bord geholt, die ausgewiesene Experten für Schoa-Geschichte und Gedenkkultur sind. Diese fundierte fachliche Einordnung der historischen Ereignisse ist ein essenzieller Baustein unseres Konzepts.
Bis zur Eröffnung der Installation sind es noch gut neun Monate. Sie sind derzeit auf der Suche nach weiteren Teilnehmern – insbesondere aus Berlin.
So ist es. Die Kernausstellung wird am 20. Januar 2022 in Berlin eröffnet. Anschließend reist sie in verschiedene Länder, unter anderem ins Vereinigte Königreich. An einigen Orten sollen weitere Überlebende aus der jeweiligen Region gemeinsam mit ihren Enkeln porträtiert werden, die die Dokumentation dann fortlaufend ergänzen. Schon in der Kernausstellung werden Überlebende aus verschiedenen Ländern vertreten sein – die ersten haben bereits zugesagt. Etwa die Hälfte soll hingegen aus Deutschland kommen – gern auch aus Berlin, dem Standort der IMAGO-Kamera. Wir freuen uns auf Interessenbekundung von Überlebenden, ihren Enkeln und Urenkeln aus Berlin und ganz Deutschland, Teil dieser Ausstellung zu werden.
Mit der Fotografin und Projektleiterin sprach Christine Schmitt.