Hashomer Hatzair

Wächter in Berlin

Locker hängen die weißen Kordeln am blauen Hemd herunter. Unter der Brusttasche steckt ein Button, daneben noch ein bunter kleiner Anstecker, und am rechten Hemdärmel leuchtet ein roter viereckiger Aufnäher. Alles das heißt: David ist ein Wächter – ein Schomer Hatzair. Zusammen mit 285 anderen Schomerim steht der 18-Jährige aus Paris am Donnerstagnachmittag vor dem Berliner Abgeordnetenhaus.

Gestern noch waren die Jugendlichen aus Belgien, der Schweiz, Österreich oder Frankreich in einem Sommercamp für Madrichim im Brandenburgischen. Nun warten sie ungeduldig auf einen Moment, den man ohne zu übertreiben historisch nennen kann – die Neugründung des sogenannten Berliner Ken, eines Zweiges von Hashomer Hatzair. Die Jugendbewegung, die 1913 ihren Ursprung in Galizien hat und 1938 von den Nationalsozialisten verboten wurde, ist zurück in Deutschland – nach 74 Jahren. »Es ist cool, dass wir alle heute dabei sein können«, sagt David. Der Schüler, der seit seinem zehnten Lebensjahr Mitglied ist, spricht schnell. Er hat es eilig, denn einige seiner Freunde laufen schon die große Treppe im Foyer hoch.

Facebook Dort, wo sonst Berliner Parlamentarier tagen, schwirren Jugendliche in blauen Hemden durch das altehrwürdige Gebäude. Eine von ihnen ist Dana. Die Wiener Schülerin findet es »wichtig«, dass es wieder einen Ken gibt. Gemeinsam mit ihren Freundinnen beeilt sie sich, in den Saal des Abgeordnetenhauses zu kommen. Die Jugendlichen sind gut gelaunt, unterschreiben auf ihren blauen Hemden, versprechen sich, die anderen bei Facebook als Freund zu »adden«. Es scheint, als sei das so etwas wie das elfte Gebot. Denn kaum eine Unterhaltung endet nicht bei Facebook.

Etwas weniger virtuell sind die Gebote, nach denen sich die jungen Genossen richten: Die Wahrheit achten, an der Seite Israels stehen, für Gleichberechtigung und Frieden eintreten oder kritisch denken. Diese Grundsätze ziehen sich durch die Geschichte der Jugendbewegung, deren anfängliches Hauptziel die Einwanderung nach Israel und der Aufbau von Kibbuzim war. Ende der 30er-Jahre ging Hashomer Hatzair in den Untergrund und kämpfte gegen die Nazis. Fast alle Schomerim kennen den Namen des polnischen Widerstandskämpfers Mordechaj Anielewicz, der beim Aufstand im Warschauer Ghetto die Jüdische Kampforganisation leitete.

Einige Jugendliche, die heute bei Hashomer Hatzair sind, haben Eltern oder Großeltern, die ebenfalls das charakteristische blaue Hemd getragen und sich für die sozialistisch-zionistischen Werte der Organisation eingesetzt haben.

Alternative Auch Ido Porats Großvater war schon Mitglied. »Ich bin sehr stolz, in seine Fußstapfen zu treten«, sagt der Vorsitzende von Hashomer Hatzair Deutschland. Porat, der der linksgerichteten Meretz-Partei nahesteht, will mit der Neugründung des Berliner Ken den jüdischen Jugendlichen eine Alternative bieten. »Wir sind eine sozialistische Bewegung. Darin haben wir unsere Wurzeln, und das macht uns aus«, sagt er vor dem Event. Eine Unterstützerin findet er in Andrea Nahles.

Die Generalsekretärin der SPD ist am Donnerstagnachmittag auch eine Schomra Hatzair. In ihrem blauen Hemd unterscheidet sie sich fast gar nicht von den vielen anderen jungen Erwachsenen, die nicht gelangweilt auf Stühlen, sondern ganz lässig auf dem Boden des Saals im Abgeordnetenhaus sitzen. Nahles kennt die Organisation schon seit vielen Jahren durch die Zusammenarbeit im Jerusalemer Willy-Brandt-Center, sagt sie der Jüdischen Allgemeinen. »Ich bin glücklich, heute dabei zu sein.«

Die gemeinsamen Projekte mit der »Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken« und auch die Aktivitäten mit palästinensischen Jugendlichen hätten viel »Neues« gebracht, beschreibt Nahles. »Ich bin stolz, dieses Hemd zu tragen«, wird sie später den Jugendlichen zurufen. Es sei ein »historischer Tag« und ein »besonderer Moment« für die 42-jährige Sozialdemokratin, zu wissen, dass es mit der Gründung von Hashomer Hatzair nun eine linke Jugendbewegung mehr gäbe.

Tel Aviv Darüber freuen sich auch die beiden Schweizerinnen Fanny und Timrah. Wie ihr »Genosse« David aus Paris sind auch sie schon seit frühesten Kindheitstagen Mitglied bei Hashomer Hatzair. »Es muss Alternativen zum Kapitalismus geben«, sagt die 20-Jährige. Die politisch engagierte Studentin weiß, dass Hashomer Hatzair nicht nur aus lustigem Pfadfinderleben besteht, sondern dass sich die Mitglieder auch mit aktuellen politischen Themen auseinandersetzen. »Wir stehen in engem Kontakt zu den Demonstranten in Tel Aviv«, beschreibt Fanny die Verbindung nach Israel. Die beiden finden es gut, dass sich endlich etwas bewegt. Ob sich allerdings mit dieser Regierung etwas ändert, da ist sich Fanny nicht sicher.

Sicher allerdings ist, dass der Berliner Ken von Hashomer Hatzair ab September seine Arbeit aufnehmen wird. Und 2022, wenn die Organisation ihr zehnjähriges Jubiläum in der Hauptstadt feiern wird, so hofft auch Ido Porat, dann wird die Welt vielleicht ein bisschen besser sein.

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024