Stuttgart

Von Müttern und Töchtern

Bertha Pappenheim (1859–1936) setzte sich für Frauenrechte ein und war erste Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes. Foto: ullstein bild - Granger Collection

Stuttgart

Von Müttern und Töchtern

Das Interreligiöse Frauenmahl beschäftigte sich mit einer besonderen Beziehung

von Brigitte Jähnigen  30.07.2020 11:25 Uhr

Rund 120 Frauen waren am vorvergangenen Wochenende zum 5. Interreligiösen Frauenmahl in den Stuttgarter Hospitalhof gekommen. Das Meeting der unterschiedlichen Generationen und Frauen aus verschiedenen Religionen lädt nicht nur zum gemeinsamen Essen ein, sondern stellt sich stets ein Diskussionsthema. Dieses Mal waren überraschend viele junge Frauen in den Hospitalhof gekommen.

Diskussion Zehn Prozent der Teilnehmerinnen gehörten der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) an. Und sie diskutierten über Fragen wie »Was habe ich von meiner Muttergeneration mitbekommen?« oder »Was gebe ich an meine Tochter(generation) weiter?«. Impulse gaben vier Referentinnen.

Über alle Kulturen hinweg ist die Beziehung zwischen Mutter und Tochter einzigartig.

»Wir sind alle Töchter von Müttern«, stellt Martina Rudolph-Zeller die besondere Gemeinsamkeit des Treffens fest. Über alle Kulturen hinweg sei die Beziehung von Mutter und Tochter einzigartig, weil die erste und wichtigste im Leben.

»Die Mutter ist Teil des eigenen Ichs, die Auseinandersetzung mit ihr ist auch die Auseinandersetzung mit sich selbst«, so die Leiterin der Telefonseelsorge Stuttgart. 20 Prozent der Telefongespräche, die sie und ihre Mitarbeiter von der Telefonseelsorge führen, drehten sich um das Verhältnis Mutter–Tochter, sagt Martina Rudolph-Zeller.

erwartungshaltung Junge Frauen heute hätten andere Erwartungen an sich als die Generation zuvor. Doch der Druck der Gesellschaft auf Frauen im Zusammenspiel von Beruf und Familie sei »enorm hoch«. Mütter könnten eine Hilfe sein. Doch die natürliche Ablösung der Tochter von der Mutter erlebten viele Mütter noch immer als Zumutung. Schmerzhaft sei sie, überhaupt nicht harmonisch, so Rudolph-Zeller. Doch Ehrlichkeit gegenüber sich und der Mutter lohne sich.

»Meine Mutter war nur Mama, das war für mich eine tiefe Prägung«, sagt Claudia Marx-Rosenstein von der IRGW. Folgerichtig habe sie, als ihre Mädchen klein waren, auch als »Fast-nur-Mutter« gelebt. Belastet habe sie, dass sie finanziell abhängig von ihrem Mann gewesen sei, sagt Marx-Rosenstein in der Diskussion.

»An meine Töchter habe ich weitergegeben, dass sie finanziell unabhängig sein sollten«, betont sie weiter. Dennoch: Der Blick zurück sage ihr, ihre Entscheidung, sich nicht zwischen Familie und Beruf aufgerieben zu haben, sei sinnvoll gewesen. Nun habe sie Kraft genug, berufstätig zu sein, sich in der Repräsentanz der IRGW zu engagieren und auch im Vorbereitungsteam für das Frauenmahl mitzuarbeiten. »Ich bin sehr glücklich, dass heute zehn Prozent der Teilnehmerinnen aus der IRGW sind«, sagt Claudia Marx-Rosenstein.

Das Coronavirus bedingte, dass in diesem Jahr nur 120 Frauen an dem Treffen teilnehmen konnten, 2019 waren es noch 300.

Mehr als 300 Frauen waren im vergangenen Jahr zum Frauenmahl ins Evangelische Bildungszentrum Hospitalhof gekommen. In diesem Jahr führte Corona Regie – aus Abstandsgründen konnten nur 120 Anmeldungen angenommen werden. Die Diskussionsfreude trübte es nicht.

Männerdomäne Frauen und ihr Leben sind auch Themen der Bildhauerin Birgit Rehfeldt. »Trotz Abitur und Studium war ich auf Kinderkriegen und Haushalt nicht vorbereitet«, gesteht die Künstlerin. Und dann sei sie mit ihrer Berufswahl als Bildhauerin auch noch in eine Männerdomäne eingebrochen. Die Antworten, die Rehfeldt auf ihre Fragen gefunden hat, sind derzeit im Hospitalhof anzuschauen.

Als Preisträgerin des »Kunstpreises Sabine Hoffmann« 2020 sind ausgewählte Werke von ihr ausgestellt. Amüsant, aber voll tiefem Ernst ist auch ihre Skulptur »Heimspiel«.

Ein Mann im Fußballtrikot macht Handstand auf einem Kochtopf, der auf einem Herd steht, der wiederum auf einem Feld von Kohlköpfen steht, das wiederum auf einer technischen Kons­truktion steht. Die Aufeinanderhäufung und -schichtung von Themen – Rehfeldt lebt in der Nähe des Flughafens, wo die Abgase der Flugzeuge auf Äcker niedergehen – beeindruckte die Teilnehmerinnen. »Ja, so ist es hier in Stuttgart«, kommentiert eine Teilnehmerin.

Stereotype Gökcen Sara Tamer-Uzun kam im weißen Kleid mit rotem Helm auf einer roten Vespa zum Treffen und erregte damit Aufsehen. Tamer-Uzun ist Dozentin im Studiengang Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Dem Stereotyp einer gläubigen Muslimin entspricht sie ganz sicher nicht. Doch sie ist überzeugt: »Stereotype bestimmen die öffentliche Wahrnehmung.«

Ein präziser Blick – Tamer-Uzun bezieht sich auf aktuelle Studien zur Untersuchung muslimischen Lebens in Deutschland – zeige, dass es einen eigenen deutschen Islam gebe. »Er ist geprägt durch eine starke Bindung zur Familie, aber auch durch hohe Leistungserwartungen gegenüber den Kindern, unabhängig von deren Geschlecht«, sagt die Dozentin. Nun seien vor allem die Väter gefordert, eine Balance zwischen traditioneller Kultur und Individualität zu finden.

Bertha PAPPENHEIM Dass im Judentum die Zugehörigkeit zum Judentum über die jüdische Mutter an die folgenden Genera-
tionen weitergegeben wird – daran erinnert an diesem Abend Nina Kölsch-Bunzen. Der Fokus ihres Impulses lag auf der Biografie von Bertha Pappenheim. 1859 in einer orthodoxen Wiener Familie geboren, entwickelte sich Bertha Pappenheim zu einer frühen Netzwerkerin in der Frauenbewegung, so die Professorin für Soziale Arbeit und Kindheitspädagogik an der Hochschule Esslingen.

»1917 gründete sie den ›Zentralen Wohlfahrtsverband der deutschen Juden‹, der bis heute als ›Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland‹ als professioneller und moderner Repräsentant der sozialen Arbeit auftritt«, sagt Kölsch-Bunzen.

Bertha Pappenheim hat schon früh in ihren Publikationen auf antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft hingewiesen.

Bertha Pappenheim habe schon früh in ihren Publikationen auf antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft hingewiesen und sei gegen Mädchenhandel und Prostitution engagiert gewesen. »Das erste Frauenhaus in Deutschland, eingerichtet im Jahre 1907, wurde auf ihre Initiative hin gegründet«, erzählt die Dozentin. Selbstbewusstsein, Bildung, Erfahrung mit lebendiger Tradition – diese Maxime vertrat die Frauenrechtlerin Pappenheim in bewundernswerter Konsequenz.

diskussionen Nach einem Snack, der sowohl nach jüdischen als auch nach muslimischen Speisevorschriften zubereitet war, fanden weitere Diskussionen in kleiner Runde in der Nachbarschaft statt. Mit dabei war auch Susanne Jakubowski, Mitglied im Vorstand der IRGW, Architektin und Vorsitzende der Baukommission der IRGW für die Fertigstellung des Sanierungsgebietes Hospitalviertel.

»Mit dem Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof, Synagoge und jüdischem Gemeindezentrum sind wir hier im interreligiösen Viertel Stuttgarts«, wies Jakubowski auf das besondere Ambiente hin.

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