Schabbat

Von Kvetchern und Betern

In die Gottesdienste am Schabbat kommen viele fremde Beter – vor allem in den Touristikhochburgen wie Berlin (im Bild: Rabbiner Yitshak Ehrenberg). Foto: Gregor Zielke

Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):

Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.

Drei bis vier Stunden Schacharit, da schweifen die Blick schon einmal umher, erst recht, wenn man in einer Touristenhochburg wie Berlin lebt. Wer sitzt da eigenlich alles? Immer häufiger bleibt der Blick an einem Neuling hängen: »Da ist er wieder. So einen Typen habe ich doch neulich schon hier gesehen, aber der sah anders aus. Benimmt sich aber so wie der von vor zwei Wochen.«

Zum Beispiel der typische Besucher. Er kommt immer aus Israel oder den USA. (Sonst wäre er ein Gast.) Der Grund seines Besuchs ist immer die Vergangenheit: Vorfahren kamen aus Deutschland, jetzt will er auf ihren Spuren wandeln. Der Besucher kann nicht verlieren: Ist er von Gottesdienst, Atmosphäre und Architektur begeistert, dann fühlt er sich seiner eigenen Geschichte näher. Wenn der zehnte Mann einschläft und die Beter auf Klappstühlen sitzen, dann ist er trotzdem gerührt – und hat einen Grund mehr, sich zu freuen, dass seine Vorfahren den Sprung geschafft haben.

Der Tourist Den Touristen trifft man vor allem in Chabad-Häusern an. Zwischen Düsseldorf und Dubrovnik isst er Yerakot von Plastiktellern. Eigentlich hat er immer einen übergroßen Rucksack offen, vor allem, wenn er ihn nicht gerade auf dem Rücken trägt. Manchmal reist er mit eigenem Minjan und feiert zum Beispiel seine baldige Vermählung. Zwischendurch lässt er sich gespannt erklären, dass Berlin einst geteilt war, bis der Rebbe die nächste Flasche Wodka bringt. L’Chaim!

Der Verstecker könnte auch ein T-Shirt tragen, auf dem »Tinok Shenishba« (»Ich bin Jude, nur dafür kann ich nichts!«) steht. Aus welchen Gründen auch immer hat er sich abseits der Hohen Feiertage in die Synagoge getraut. Einerseits möchte er jedem persönlichen »Gut Schabbes« wünschen, andererseits hat er Angst davor, entdeckt und enttarnt zu werden.

Aus Versehen hat er sich einen Siddur ohne Transliteration gegriffen und wird panisch. Während des Gottesdienstes ist er stumm, steht drei Sekunden später als alle anderen auf. Die ganze Zeit wartet er auf das eine Gebet, das er kennt und an dem er sich beteiligen kann. Anschließend verschwindet er so schnell wie möglich. Mit mehr Wissen und Selbstsicherheit wird aus ihm eventuell ein Krakeeler oder ein Klatscher.

Der Makher Der Händeschüttler kommt immer etwas zu spät, hält aber trotzdem nichts von schambewusster Unauffälligkeit. Mit seinen extra für diesen Zweck verlängerten Armen reicht er über bis zu vier Sitzreihen, um jeden persönlich zu begrüßen. Manchmal entpuppt sich der Händeschüttler auch als Makher, für den die Schul nur eine Erweiterung seines Maklerbüros ist. Der Makher hat immer sein Smartphone dabei, weil er auch beim Zünden der Kerzen »erreichbar« sein muss.

Der Krakeeler wähnt sich in einem Konzert: er als Solist, die Minyan Boys als Backing-Band. Die Anwesenheit eines Chasan empfindet er als Herausforderung, eher als Beleidigung denn als Bereicherung. Er ist vom Klatscher zu unterscheiden – ein Solist wie er hat ein Publikum, keine Mitbeter.

zu Dritt Die Jungen Frummen sind in orthodoxen Synagogen anzutreffen – auch sie kommen immer zu spät und sind mindestens zu dritt. Wo sonst Tallit das höchste der Gefühle ist, tragen sie stolz schwarze Anzüge, aus denen unten Zitzit blitzen, Hüte und manchmal sogar Pejes. Sie beginnen gerne Gespräche, weil sie wissen, dass sie es sich leisten können. Irgendwann wird aus einem der jungen Frummen vielleicht ein alter Gelehrter, der gelegentlich durchs Bild schlurft und unter seinem weiten Kaftan von einem Exemplar der Kennicott-Bibel hin zur Sukka aus dem letzten Jahr alles versteckt haben könnte.

Der Klatscher weiß: Spiritualität ist vor allem eine Frage des Willens. Mit einer Intensität, wie man sie sonst nur von langhaarigen Freaks in der dritten Reihe eines Dorfkonzerts einer Bluesrock-Coverband kennt, versucht er, sich und alle anderen in Trance zu klatschen, als sei das Lecha Dodi eine Jamsession der Grateful Dead.

Der Hutträger Der »lustige Hut« empfindet die Kippa als Einengung, legt aber trotzdem viel Wert auf Kiddusch HaSchem. Deswegen trägt er eine große Melone, einen Stetson, ein Kepi oder eine Fackelmann-Mütze. Sein Gegenstück ist der Klammerer, der seine Yarmulke mit so vielen Haarclips befestigt hat, bis sie einer umgedrehten Dornenkrone fatal ähnlich sieht.

Der Schwätzer ist nicht unbedingt auf Lashon Hara, auf böse Nachrede aus, er will sich nur etwas austauschen. Höchstens für das Sch’ma Israel unterbricht er kurz seinen Redefluss, um dann mit »... wo war ich gerade?« weiterzumachen.

Der Athlet stellt sich, wenn er sorgsam ist, neben die Bestuhlung, damit er beim Wippen weit ausholen kann, ganz in die Knie geht, um dann mit seiner Nase fast den Fußboden zu berühren. Generell hat er Probleme mit ruhigem Sitzen und macht zwischendurch Aufwärmübungen in den Gängen.

Der Nörgler Wie bringt der Kvetcher es überhaupt fertig, eine Synagoge zu finden, die ihm nicht zu zugig, zu klein oder zu orthodox oder zu liberal ist? Wenn er es doch geschafft und sich mit der Bestuhlung arrangiert hat, dann geht der Zores erst richtig los. Statt mit »Schabbat Schalom!« begrüßt er seine Mitbeter mit »Was ist eigentlich mit ...?«, gefolgt von einem Gefallen, den man ihm schon lange schuldig sei; oder einem Kommentar, dass man »sich ja auch mal wieder blicken lasse«. Die Gottesdienste, an denen der Kvetcher in der Nähe des Krakeelers sitzt (»Kann man da nicht was machen? Ihn ermahnen oder so?«) gehören zu den Highlights des jüdischen Kalenders.

Die Ehewillige Die Heiratswillige ist sich selbst Schadchan. Wie keine andere beherrscht sie die Kunst, sich angemessen züchtig und doch für große Teile der männlichen Beter (und vielleicht auch für manche der weiblichen) interessant anzuziehen. Sie denkt stets darüber nach, »eine Weile koscher zu leben«, und ist dauernd auf der Suche nach einem »Hebräisch-Tandempartner«, männlich natürlich. Während des eigentlichen Geschehens checkt sie JDate-Profile, danach sucht sie die Beter nach ihr unbekannten Männern unter 30 ab.

»Sag mal, kannst du mich da eigentlich mal mitnehmen«, fragt die nichtjüdische Begleitung, gefolgt von der Sorge, ob man als Nichtjude überhaupt »rein« dürfe. »Hinterher« ist die nichtjüdische Begleitung irritiert, bewegt oder einfach froh, dass es vorbei ist. Im Falle, dass die nichtjüdische Begleitung weiblich ist, sollte man darauf achten, sie in eine halbwegs egalitäre Synagoge mitzunehmen. Auf keinen Fall sollte man sie während eines Prag-Urlaubs spontan in die Altneuschul schleppen, wo Frauen durch zwei kleine Löcher im Stein schmulen dürfen, was man selbst wegen Reform-Naivität nicht bedacht hat. Sonst gibt es Ärger – da hilft auch die ganze Wärme, die einem als Besucher entgegenschlägt, nichts.

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