Heidelberg

Von der Hütte in den Hörsaal

Selfie vor der Uni: Daniel hat sich für Heidelberg entschieden und beginnt am 15. Oktober sein Studium. Foto: Montage: JA

Am 15. Oktober beginnt das neue Studiensemester. Einer der Erstsemester ist Daniel Golikov. »Ich habe ein kleines Problem«, sagt er, schaut ernst und kratzt sich am Hinterkopf: »Ich erwarte nicht so gerne etwas.« Denn er wisse: Wer schon mit Erwartungen an eine Sache heranginge, der werde enttäuscht. Der 19-Jährige sitzt in seinem spartanisch eingerichteten Zimmer in Freiburg auf dem Fußboden.

Nur eins ginge in seiner künftigen Wohngemeinschaft in Heidelberg gar nicht: »Intoleranz. Ich verstehe höchstens, warum man intolerant gegenüber Schmutz ist – das bin ich auch!«, sagt Daniel und lacht. »Aber es wäre schade, wenn meine Mitbewohner nicht offen gegenüber anderen Menschen wären.«

Daniel ist in Tel Aviv geboren und im Alter von sechs Jahren nach Deutschland gezogen. Er wuchs im baden-württembergischen Freiburg auf. Dort fühlt er sich heimisch; in der Region will er bleiben. Das ist einer der Gründe, warum er das Studium unbedingt an der Universität Heidelberg beginnen will.

Ab Oktober studiert Daniel Erziehungswissenschaft, Jüdische Religionslehre und Politikwissenschaft auf Lehramt. »Mir ist irgendwann aufgefallen, dass es mir ziemlich viel Spaß macht, Sachen zu vermitteln«, begründet Daniel seine Studienwahl. Das tut er in Freiburg bereits seit 2011 als Madrich. Seit einigen Jahren unterrichtet er aber auch Jüngere in seiner Karategruppe und hilft als Erzieher in einem Kindergarten aus.

STudienfach
Politik fand der zurückhaltende, groß gewachsene junge Mann schon immer spannend. »Ich wollte verstehen, wie sich eine politische Meinung bildet«, sagt Daniel. »Es ist selbst in Deutschland nicht selbstverständlich, dass Menschen politische Abläufe mitbekommen und auch differenziert auffassen und wiedergeben.« Das ist auch im Hinblick der Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg sehr interessant: »Warum wählen Menschen die ›Alternative für Deutschland‹?«, fragt sich Daniel.

Von einem ist er überzeugt: »Antisemitismus basiert auf mangelnder Bildung.« So will er jüdische Religionslehre nicht nur unterrichten, um jüdischen Kindern das Judentum näherzubringen. »Die interkulturelle Arbeit ist mir fast genauso wichtig.« Er will Vorurteilen und Ressentiments durch interkulturelle Bildungsprojekte entgegenwirken und vor allem den islamisch-jüdischen Dialog vorantreiben.

Da hat er sich in Heidelberg sofort wohlgefühlt. Stundenlang saß er in der Bibliothek, durchblätterte Bücher und genoss die Ansammlung von Wissen, die dieses altehrwürdige Institut bietet. Die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) sei eben einzigartig, sagt er. »Mich hat vor allem gefreut, dass sie viele Bücher von Rabbiner Abraham Joshua Heschel haben.« Dieser war für seine interreligiöse Arbeit und Freundschaft zu Martin Luther King bekannt. Gemeinsam setzten sie sich in den 60er-Jahren für die Rechte der Afroamerikaner in den USA ein.

Kochkünste
Doch bevor er sich den großen Themen widmen kann, heißt es nun erst einmal kleinere Hürden meistern. Wie zum Beispiel kochen lernen. »Na ja, etwas zubereiten kann ich schon«, sagt Daniel und lacht. So etwas könne man sich aber selbst beibringen. Viel mehr sorge ihn, wie der Studienstart wird. »Ich möchte natürlich gut im Studium sein«, sagt Daniel. Man müsse zwar alle Prüfungen erfolgreich bestehen, doch »es gibt immer Themen, die einem mehr liegen und andere weniger«.

Eine Freundin, die ebenfalls Jüdische Studien gewählt hat, habe ihn gewarnt, dass das Hebraicum die schlimmste Zeit seines Lebens werde. »Zwei Semester pure Hölle«, zitiert Daniel sie besorgt. »Vielleicht wird es weniger schlimm als erwartet, aber das vor dem Studienstart zu hören, ist übel.« Natürlich freue ihn die Herausforderung. Die Warnung nimmt er trotzdem ernst.

Kleinere Schwierigkeiten mit dem Uni-Betrieb fingen schon beim Einschreiben an. »Ich dachte, dass ich mich für nichts bewerben müsste, weil ich mit Erziehungswissenschaft und Jüdischen Studien zulassungsfreie Fächer ausgesucht habe«, erklärt Daniel. Allerdings gelte das nur für Studenten mit deutschem Pass. Weil er als israelischer Staatsbürger Ausländer ist, konnte er sich nicht online immatrikulieren. Durch Ausnahmeregelungen für Bildungsinländer – aus dem Beamtendeutsch übersetzt sind damit Ausländer gemeint, die ihren Schulabschluss in Deutschland absolviert haben konnte er sich doch noch rechtzeitig an der Universität einschreiben.

Hachschara Das war alles ziemlich knapp, weil Daniel bis Juni noch in Israel lebte. Dort hatte er nach seinem Abitur ein Jahr lang an einem Hachschara-Programm teilgenommen und durch Ausflüge und Seminare die Vielfalt Israels, die Geschichte und Politik des Landes kennengelernt. Das Programm hat ihn beeindruckt, auch wenn er die politischen Ziele des Programms kritisch sah. Die Teilnehmer würden zu stark auf eine Auswanderung nach Israel vorbereitet werden, meint er. Vor allem die Seminare fand er zu einseitig. »Mich interessiert nicht nur die jüdische Sichtweise auf den Nahostkonflikt und die Geschichte Israels.«

Durch die Internationalität der Teilnehmer bekam er allerdings die Gelegenheit, viele Juden aus Frankreich zu treffen und sich mit französisch-jüdischer Identität zu beschäftigen. Ihn interessierte, warum immer mehr französische Juden in den vergangenen Jahren nach Israel auswanderten. »Ein großes Thema ist islamischer und islamistischer Antisemitismus.«

Wurzeln Natürlich hat er sich auch intensiv mit seinen eigenen Wurzeln beschäftigt. Seine Familie kommt ursprünglich aus der Ukraine. Er ist – wie typisch für die meisten Familien aus der Sowjetunion – sehr säkular aufgewachsen. »Normalerweise sollte der Haushalt die jüdische Tradition an die Kinder weitergeben. Doch bei vielen von uns neudeutschen Juden ist das einfach nicht vorhanden«, erklärt er. Daniel hat den Weg zur Religion aber dennoch gefunden: »Ich glaube an Gott und bin von jüdischen Werten, der jüdischen Ethik und Moral überzeugt.«

Noch in Israel beschloss er, dass er nach Heidelberg ziehen werde. Und weil er das früh wusste, bewarb er sich auch rechtzeitig fürs Studentenwohnheim. Prompt kam die Zusage. »Mit der Wohnung habe ich wahnsinnig Glück gehabt«, sagt Daniel. Nun zieht er bald in das zentral gelegene Europahaus, in dem zur Hälfte deutsche und ausländischen Studierende leben. Seine Mitbewohner lernt er erst beim Einzug kennen. »Ich hätte sonst auch nicht gewusst, wie das klappen soll.« Wochenlang hat er Internetseiten abgeklappert und sich für Wohnungen beworben.

Wohnungssuche Eine günstige Wohnung war für Daniel, der seit der Schulzeit finanziell auf eigenen Beinen steht, sehr wichtig. Als er kurz nachdem er die Wohnung sicher hatte, die Zusage für ein Stipendium des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks bekam, stand seinem Studienstart nichts mehr im Wege. Nun steigt seine Vorfreude darauf, »den Rhythmus einer anderen Stadt kennenzulernen«. Er ist gespannt auf einen anderen Alltag und neue Leute. Aber etwas erwarten, das möchte er nicht.

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