Porträt der Woche

Von der Bühne zur Bima

»Jeder Einzelne kann seinen besonderen Beitrag zum Gelingen des Ganzen leisten«: Yoni Rose (29) Foto: Rafael Herlich

Porträt der Woche

Von der Bühne zur Bima

Yoni Rose ist Opernsänger und arbeitet als neuer Kantor in Frankfurt

von Barbara Goldberg  07.10.2015 14:30 Uhr

Kantor oder Opernsänger – das sind »different animals«, wie man auf Englisch sagt, mit anderen Worten: zwei Paar Schuhe. Ich liebe beide Berufe – mit den ganz unterschiedlichen Herausforderungen, die sie jeweils an mich stellen.

An der Oper gefällt mir das Schauspielerische: Ich mag es, Geschichten darzustellen und Charaktere auszuloten. Zusammen mit einem großen Orchester zu singen, ist ein so überwältigendes Gefühl, dass einem glatt die Haare zu Berge stehen könnten. Aber an der Oper ist gleichzeitig auch alles geplant und festgelegt: Es gibt nichts Unvorhersehbares für den Sänger, keinen Moment der Freiheit.

Als Chasan hingegen muss ich ständig improvisieren – manchmal öffne ich den Mund, ohne zu wissen, welche Töne da gleich herauskommen werden. Das ist aufregend und manchmal auch anstrengend – »but I love it«! Eigentlich wollte ich ja Opernsänger werden und irgendwann später vielleicht einmal Kantor. Jetzt aber ist es doch anders gekommen.

gemeinde Für meine Frau Miriam und mich war es ein großes Abenteuer, aus den USA nach Europa überzusiedeln. Im Oktober 2014 trafen wir hier ein. In den folgenden Monaten habe ich mich an verschiedenen Opernhäusern vorgestellt und vorgesungen: in Düsseldorf, München, Leipzig und Hamburg. Gewohnt haben wir von Anfang an in Frankfurt, weil wir dachten, hier fiele es uns am leichtesten, Fuß zu fassen und die Mizwot zu beachten, schon wegen der großen Jüdischen Gemeinde samt ihrer gut ausgebildeten Infrastruktur, die es in dieser Stadt gibt.

Anfang November lernte ich dann Rabbiner Julian Chaim Soussan kennen. Er vermittelte mir einen Auftritt bei einer großen Barmizwa. Rabbiner Soussan war damals auf der Suche nach einem Chasan. Also fragte er mich: »Können Sie auch am Schabbatmorgen?« Dann orderten sie mich immer häufiger für den Gottesdienst. Und jetzt bin ich ihr Chasan.

Aufgewachsen bin ich in Baltimore. Dort leben circa 100.000 Juden, und es gibt sage und schreibe 35 verschiedene Synagogen und neun verschiedene jüdische Schulen, die man besuchen kann. Ich ging zunächst in eine ultraorthodoxe Jeschiwa und wechselte später auf eine jüdische Highschool, die wesentlich weltoffener und pluralistischer war. Dort habe ich gelernt, dass es viele Wege gibt, sein Jüdischsein zu erfahren und zu leben: Mein Job ist es nicht, Richter zu sein. Ich finde, unter unserem großen jüdischen Regenschirm ist Platz für viele.

noten Ich selbst und meine drei Geschwister sind in einer streng orthodoxen Familie groß geworden, obgleich unsere Eltern erst relativ spät zu dieser Lebensform fanden. Bei meinem Vater war eine Israelreise der Auslöser; meine Mutter war früher Balletttänzerin, erst als sie an einer Law School studierte, wurde sie orthodox. Dabei wuchs sie bereits in einer religiösen Familie auf – ihr Vater war Botschafter der Vereinigten Staaten bei der UNO. Er war es, der mich zum ersten Mal in die Oper mitnahm. »Music was around the house«, wie man bei uns sagt: Ich war immer von Musik umgeben.

Aber ich bin dennoch kein Theaterkind und habe selbst nie Musik gemacht, bis ich auf die Highschool kam. Eigentlich wollte ich später Medizin studieren. Aber meine Mutter meinte damals, ich solle doch in den Schulchor eintreten, um neue Freunde zu finden. Also begann ich zu singen und entdeckte so eher zufällig meine Liebe zur Musik, meine Stimme, mein Gesangstalent.

Bald war für mich klar: Ich will singen, das soll mein Beruf werden. Die Aufnahmetests für das Gesangsstudium an der Universität von Maryland habe ich auf Anhieb bestanden, doch anschließend musste ich den Prüfern gestehen: »Ich kann gar keine Noten lesen!« Im ersten Studienjahr musste ich also viel Musiktheorie nach- und aufholen, doch am Ende konnte ich am Maryland Opera Studio meinen Mastertitel erwerben. Aber an der University of Maryland ist noch etwas ganz Entscheidendes passiert: Ich habe Miriam, meine spätere Frau, kennengelernt. Sie hat dort ein Studium zur Logopädin absolviert.

armee Außerdem entschloss ich mich dazu, eine anderthalbjährige Pause von der Uni einzulegen, um mich in Israel freiwillig zum Militärdienst zu melden. In der Armee diente ich als Infanteriesoldat an der Grenze zum Libanon und im Westjordanland. Denn für mich war klar, dass ich das Land unterstützen wollte, das für uns alle eine Zuflucht bedeutet.

Aber deshalb bin ich kein Held: Ich tat das freiwillig und wusste immer, dass ich wieder nach Hause zurückkehren kann. Für junge Israelis ist das etwas ganz anderes: Sie haben nicht die Wahl, ob sie zum Militär wollen oder nicht, und für sie ist es lebensnotwendig, dass ihr Land sich verteidigen kann.

Übrigens war ich zuvor, gleich nach der Highschool, schon einmal für ein Jahr nach Israel gegangen, um ein freiwilliges soziales Jahr abzuleisten. Damals lebte ich in einem Kibbuz im Jordantal und arbeitete als Park-Ranger im Botanischen Garten von Ein Gedi mitten in den Judäischen Bergen.

klangkosmos In den USA habe ich auf vielen Bühnen gesungen: Die angesehensten Opernensembles, bei denen ich engagiert war, sind die Santa Fe Opera und die Wolf Trap Opera. Auch beim berühmten Glimmerglass-Festival trat ich auf, ebenso wie in etlichen Oratorien. Außerdem habe ich beim »Metropolitan Opera Vocal«-Wettbewerb einen Preis gewonnen.
Und mit der »Portland Opera To Go« bin ich als Rodolfo in Puccinis La Bohème durch die Bundesstaaten Oregon, Washington und Nord-Kalifornien getourt.

Puccini ist und bleibt mein absoluter Favorit, aber ich liebe auch Gounod und Bizet, überhaupt die Musik aus dem späten 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Wussten Sie, dass etliche Kompositionen für Chasanut diese Tradition aufgegriffen und sich von der italienischen Oper haben inspirieren lassen? So weit voneinander entfernt sind meine beiden Professionen also gar nicht.

Momentan gilt mein musikalisches Interesse aber vor allen Dingen der Frankfurter Synagogalmusik. Denn jede Gemeinde entwickelt so etwas wie ihren eigenen Sound, ihren eigenen Kosmos an Melodien und Klangfolgen. Und diesen möchte ich mir aneignen. Dabei gehe ich vor wie ein Ethnologe. Eine Familie aus der Gemeinde unterstützt mich dabei, indem sie mir die traditionellen Frankfurter Gesänge vorsingt, damit ich sie mit einem Rekorder aufnehmen kann. Anschließend sitze ich zu Hause und spiele die Aufnahmen immer wieder ab, bis ich sie in Noten aufgeschrieben habe, mit ihnen vertraut geworden bin und weiß, wie sie klingen sollen.

überzeugung Denn Rabbiner Soussan und ich haben ein Ziel: Wir wollen verstärkt die jungen Familien innerhalb der Gemeinde ansprechen und dazu beitragen, dass sich alle Gemeindemitglieder willkommen und wohl in unserer Gemeinschaft fühlen. Uns beide eint die Überzeugung, dass jeder Einzelne seinen besonderen Beitrag zum Gelingen des Ganzen leisten kann.

Außerdem mag ich es, mit Kindern zu arbeiten. Deshalb bringen mir die regelmäßigen Vorbereitungstreffen mit den künftigen Barmizwa-Jungen besonders viel Spaß, genauso wie der »Sing-along«, das gemeinsame Singen im Gottesdienst.

Eine junge Familie werden wir übrigens selbst bald sein, denn Miriam und ich erwarten im November unser erstes Kind. Das ist, trotz aller spannenden Herausforderungen, die meine neue Tätigkeit als Chasan an mich stellt, derzeit doch das Alleraufregendste in meinem Leben.

Aufgezeichnet von Barbara Goldberg

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