Bildung

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Auf Leistung gedrillt: Viele Kinder und Jugendliche haben kaum mehr Freizeit. Foto: Thinkstock, (M) Frank Albinus

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Vormittags Schule, nachmittags Sportverein, abends Nachhilfe – Schüler stehen unter gewaltigem Druck. Eine Umfrage im Frankfurter Jugendzentrum

von Astrid Ludwig  16.04.2013 14:08 Uhr

Ein Krachen, dann fließt Wasser die Scheibe herunter – begleitet von fröhlichem Kreischen. Eine Wasserbombe hat das Fenster des Leiterzimmers getroffen. Zvi Bebera zuckt noch nicht einmal. »Sonntags ist hier immer viel los«, sagt der Chef des Frankfurter Jugendzentrums Amichai, lacht entspannt und eilt hinaus auf den Flur, um zu sehen, ob auch die Jüngeren mit Pizza und Getränken versorgt sind.

In den Räumen im Souterrain der Jüdischen Gemeinde herrscht Trubel, ein buntes Durcheinander aus kleinen Kindern, Teenagern, jungen Erwachsenen und Müttern, die sich ihre Zeit als »Taxi Mama« mit einem Plausch vertreiben. Es ist der erste warme Frühlingstag. 60 bis 70 Jugendliche lärmen ausgelassen in den Räumen und im Hof des Zentrums.

Freizeit Im Amichai können sie sich entspannen, sich mit Freunden treffen, abschalten. »Mal nicht ans Lernen und an die Schule denken«, sagen Yael und Karina. Die 13-Jährigen sind Freundinnen. Yael, groß, mit blonden langen Haaren, und Karina, kleiner und dunkelhaarig, wohnen beide in Frankfurt, doch sie sehen sich meist nur hier und nur sonntags. »Zeit für Freunde habe ich nur am Wochenende«, bedauert Karina.

»Unter der Woche habe ich kaum Freizeit. Da komme ich von der Schule, lerne, und dann ist der Tag meist schon vorbei«, sagt die 13-Jährige und bestätigt das Ergebnis einer europäischen Vergleichsstudie des Kinderhilfswerkes UNICEF, wonach Kinder in Deutschland zwar leistungsstark, aber mit ihrem Leben nicht unbedingt zufrieden sind.

Karina ist eine gute Schülerin, sie schreibt Einsen und Zweien, lernt außerdem Klavier und spielt Badminton. Ein voller Stundenplan. »Das ist seit der fünften Klasse so«, sagt sie. Seit sie die jüdische Grundschule verlassen und aufs Gymnasium gewechselt ist. »Ich wäre lieber auf der jüdischen Schule geblieben, da sind meine Freunde, aber meine Eltern wollten gerne, dass ich auf das Gymnasium gehe«, erzählt sie. Den Leistungsdruck, den sie verspürt, »den mache ich mir selbst«, weil sie einen guten Abschluss machen »und später mal viel Geld verdienen will«.

Training Doch auch Yael, die die jüdische Schule besucht, geht es kaum anders. Der Unterricht dauert bis zum Mittag, montags geht Yael danach zum Leichtathletik-Training, dienstags und donnerstags paukt sie am Nachmittag Mathe und Englisch in der Nachhilfe-Stunde. »Ich habe auch Klavier gespielt und Volleyball, habe aber aufgehört, weil dafür keine Zeit mehr war«, berichtet sie. Die Schule bestimmt den Alltag. Bis zu vier Stunden Hausaufgaben jeden Tag sind keine Seltenheit.

Die 13-Jährige fühlt sich gestresst, vor allem seit nur noch zwölf Schuljahre zum Abitur führen. Sie leidet unter Prüfungsangst. »Mein Vater möchte, dass ich gute Noten schreibe«, sagt sie. Er habe Jura studiert, ist Offizier in der Bundeswehr. Früher war das für Yael und ihre vier Geschwister alle zwei bis drei Jahre mit Umzügen in eine andere Stadt verbunden, doch jetzt lebt die Familie fest in Frankfurt, nur der Vater pendelt.

Zvi Bebera arbeitet seit 17 Jahren in der Jugendarbeit. Dass die Kinder immer mehr unter Druck stehen, beobachtet der Leiter des Amichai seit Langem. »Das wird von Jahr zu Jahr schlimmer.« Eltern und Jugendliche seien oft überfordert. Der 37-Jährige hat schon Jugendliche mit Nervenzusammenbrüchen getröstet. »Alle werden heute auf Leistung gedrillt. Schon Neun- und Zehnjährige lässt man keine Kinder mehr sein«, findet er. Er erlebt die Jugendlichen fast täglich. Viele seien zappelig, unruhig, könnten sich schlecht konzentrieren. »Sie bekommen sogar Ausschlag oder sind aggressiv.« Extrem zugenommen habe die Tendenz seit der Abschaffung des 13. Schuljahres.

Kulturschock Bei den russischsprachigen Zuwanderern der Gemeinde beobachtet er auch noch einen anderen Druck, den kulturellen. »Da muss es dann oft auch noch der Musik- oder Ballettunterricht sein«. Zvi Bebera hat diese Erfahrung teilweise selbst gemacht. Mit zwölf Jahren kamen er und seine Eltern aus Israel nach Deutschland. »Ein absoluter Kulturschock«, erinnert er sich. Seit 2011 leitet Bebera das Jugendzentrum in Frankfurt, zuvor war er in jüdischen Einrichtungen in München und Basel. Leistungsdruck, sagt er, herrsche auch in der Schweiz. Das sei nicht nur typisch deutsch.

Der 16-jährige Dan ist da vielleicht ein bisschen entspannter als viele seiner Altersgenossen. Auch er weiß, dass seine Eltern gute Schulnoten erwarten, auch er hat jede Woche einen vollen Stundenplan, »aber ich fühle mich nicht bedrückt«, sagt er. Dan, zurückhaltend und freundlich, absolviert gerade ein Sozialpraktikum im Amichai. Er backt Kuchen mit den kleinen Besuchern. Ein solches Praktikum müssen alle Schüler des Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums in Bad Homburg machen.

Dan geht in die zehnte Klasse. Der 16-Jährige kommt regelmäßig ins Frankfurter Zentrum, trifft dort Freunde. Er ist musikalisch. Vor Kurzem erst hat er mit einer Gruppe von Sängern und Tänzern aus dem Amichai den fünften Platz beim Jewrovision Song Contest belegt. Er war einer der Sänger.

leistungskurs In der Schule hat Dan Musik als Leistungskurs belegt. Er spielt Geige – wie sein Vater, der als Musiker im Frankfurter Museumsorchester arbeitet. »Mein Vater hat mich zum Spielen ermutigt«, sagt er. Geige spielt Dan auch im Jugendorchester, Fußball im jüdischen Verein. Hinzu kommt Nachhilfeunterricht in Bio und Chemie. »Ich bin faul«, grinst er. Und dann ist da auch noch der Onkel, der einmal in der Woche abends vorbeischaut und mit seinem Neffen Französisch spricht. »Das kann ich mittlerweile gut«, freut sich Dan. Seine Eltern wollen, dass er studiert. Nur was, weiß er noch nicht. »Vielleicht Medizin«, sagt er. Aber dafür brauche man gute Noten.

»Wenn du nicht gut bist, dann hast du heute ein Problem«, kritisiert Zvi Bebera. Im Amichai versucht er Eltern und Kinder daran zu erinnern, dass nicht nur gute Noten zählen. »Wichtig sind auch Kreativität und soziale Intelligenz. Es kann doch nicht sein, dass schon Kinder Existenzangst haben«, schüttelt er den Kopf und eilt wieder raus auf den Flur, um nach den Jüngsten zu sehen.

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