Augsburg

»Vereisen morgen«

Wir haben in unserer Familie nie darüber geredet, was damals geschah. Es ist toll, dass wir hier mit einem Mann sprechen können, der diese schlimme Zeit überlebt hat und der mit uns offen von seinem Empfinden erzählt.» Rund 60 Schüler erarbeiteten sich in einem Workshop des Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben die Lebenslinie eines Zeitzeugen – von George (Günter) Sturm.

Seit neun Jahren lädt das Museum jährlich einen jüdischen Zeitzeugen ein, um in einer öffentlichen Festveranstaltung und an den Tagen darauf in Workshops mit Schülern über sein Leben in Augsburg zu berichten. Und in diesem Jahr kam George Sturm aus New York an den Lech. Seine Augsburger Vergangenheit ist wissenschaftlich von Souzana Hazan vom Jüdischen Kulturmuseum aufgearbeitet worden und liegt aktuell als Druckschrift vor.

George, 1930 geboren, entstammt gutbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater hatte von seinem Vater die Leitung der größten süddeutschen Tuchhandlung übernommen. «Es war das erste Haus in Augsburg mit einem Fahrstuhl», genau an dem Platz in der Bahnhofstraße 18 1/5, wo vor einigen Jahrzehnten eine Textilkette ihr Gebäude errichtete.

Details «Ja, wir haben eine Entschädigung erhalten, aber wie wollen Sie eine Wiedergutmachung für sechs Millionen ermordete Juden schaffen?» fragte George Sturm. Es sind die Details, an die sich der heute 80-Jährige erinnert: Wie zum Beispiel an das Hauspersonal, oder dass er mit seinem Großvater fast täglich im Siebentischwald spazieren war. «Mit Opi verbinde ich ein sehr schönes Vertrauensverhältnis.» George Sturm bekommt feuchte Augen, wenn er sich an den Spätoktober 1939 erinnert: Mit seinen Eltern sei er aus der Wohnung im dritten Stock heruntergekommen. Auf Höhe des zweiten Stockwerkes trafen sie auf dem letzten Treppenabsatz auf den Großvater. Der habe Lebewohl gesagt und alle hätten gewusst, dass sie sich nie mehr wieder sehen würden. Erstmals sah George seinen stattlichen Großvater, den Kommerzienrat Hugo Steinfeld, weinen. Wegen ihres hohen Alters hätten die Großeltern nicht mehr auswandern wollen. Wenige Monate später nahmen sie sich das Leben, weil sie sich in einer ausweglosen Situation sahen und ihren Kindern nicht zur Last fallen wollten.

In einem Abschiedsbrief an Verwandte in England hatten sie gebeten, sie mögen die «Verwandten in den USA grüßen und sie um Verzeihung bitten». Die Situation, wie sie George Sturm schilderte, war für die Schüler unbegreiflich. Sie wurden sehr nachdenklich. Aber genau das will das Projekt Lebenslinien: Menschen dazu anregen nachzudenken, was passiert ist und auch wie es dazu kommen konnte – und, wie es George Sturm sagte, zu vermitteln: «Ich weiß, dass ihr alle, die ihr hier sitzt, nichts dafür könnt. Aber ich weiß auch, dass ihr über diese Schicksale viel zu wenig wisst.»

Lehrplan Genau das interessierte die Schüler. Lehrerin Carmen Gaudl war bereits zum zweiten Mal mit einer Klasse zu einem Workshop gekommen, um den Schülern zu zeigen, dass zwischen der Weimarer Verfassung und dem Grundgesetz, wie es laut Lehrplan unterrichtet wird, viel mehr steckt, als Formalien. Daniela sagte, dass sie zuvor «eigentlich achtlos» an der Synagoge vorbeigegangen sei. «Wir haben niemanden, mit dem wir darüber reden können. Die Leute, die das erlebt haben, sterben heute wegen ihres Alters», ergänzte Julia. Tanja lebt seit rund 20 Jahren in Augsburg. Sie kommt aus Kasachstan, wohin ihr ehemals deutscher Großvater verschleppt wurde. Dort seien ihr Opa und ihr Vater beispielsweise als Nazis beschimpft worden. Hier seien sie «Russen». Allein diese Tatsache vermittelte ihr ein Stück weit, sich in die Lebensgeschichte von George Sturm einfühlen zu können.

«Am 1. September begann der Krieg, wir hatten eine Passage-Nummer für Oktober», erinnerte sich Sturm an das große Glück, dass seine Familie doch noch ausreisen konnte. Die Passage durch den verminten «Channel», die Überfahrt in herbstlich rauer See und die Ankunft, erstmals in New York Wolkenkratzer zu sehen, sei für ihn als Kind ein großes Erlebnis gewesen. Trotzdem und obwohl seine Eltern sich mit der Situation in New York arrangiert hätten und er selbst eine glänzende Karriere gehabt habe: «Meine Heimat ist und bleibt Augsburg. Hier bin ich geboren, das ist mein Blut, da fühle ich mich zu Hause.»

«Leben Sie jüdisch?» fragte eine Schülerin. «Ich bin Jude und bin es gerne. An den hohen Feiertagen gehe ich auch in die Synagoge. Eines der schönsten Erlebnisse hatte ich, als ich an einem Feiertag meinen Sohn Max bei dessen Studium in einer entfernten Stadt besuchte, in die Synagoge ging und mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte: Es war mein Sohn.»

Mitgefühl Den Schülern war anzumerken, wie ergriffen sie durch Sturms Erzählungen waren. Briefe mit dem Inhalt «Verreisen morgen, Ziel unbekannt» wie George Sturms Eltern sie von Verwandten anlässlich deren Deportation erhielten oder zum Selbstmord ihrer Verwandten in England, die in Anlehnung an den Suizid der Großeltern schrieben «Engländer bei Steinfelds» stimmten die Schüler sehr nachdenklich. George Sturm kam nach Augsburg, damit sich solche Briefe nicht mehr wiederholen werden

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024