Gedenken

Untergrund oder Deportation

Letzte Hoffnung: Berliner Juden vor einem Reisebüro in der Meineckestraße (1939) Foto: dpa

Vier dürre Sätze, gerichtet an die NS-Dienststellen, zerstörten vor 75 Jahren die letzte Hoffnung von deutschen Juden, der Verfolgung noch zu entgehen. Der zentrale Satz lautete: »Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei (Heinrich Himmler) hat angeordnet, dass die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist.«

Die Verfolgten hatten ab dem 23. Oktober 1941 nur noch zwei Alternativen: Deportation in die Vernichtungslager im Osten oder Abtauchen in den Untergrund. Zu diesem Zeitpunkt hatten Schätzungen zufolge rund 280.000 bis 300.000 Juden Deutschland verlassen, rund 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Warum reagierten bis zum Herbst 1941 nicht mehr mit Flucht auf die zunehmenden Schikanen, Boykotte, Berufsverbote und Enteignungen?

Restriktionen Wer so fragt, hat dem Historiker Wolfgang Benz zufolge weder die damalige Realität noch die soziale Situation der verfolgten Juden begriffen. »Wegen ihrer Sozialstruktur waren die deutschen Juden in der Mehrzahl kaum auswanderungsfähig.« Auch und besonders, weil die Restriktionen der Nazis etliche Juden verarmen lassen hatten. Hinzu kamen hohe Sonderabgaben wie die »Reichsfluchtsteuer«.

Und die Zielländer nahmen nur begrenzt jüdische Flüchtlinge auf. Nach Kriegsausbruch wurde die Auswanderung zusehends erschwert, diplomatische Vertretungen schlossen. Darüber hinaus, so Historiker Wolfgang Benz, habe das Selbstverständnis von vielen assimilierten deutschen Juden gegen eine Auswanderung gesprochen: »Es schien unvorstellbar, dass die erreichte Assimilation im Nichts zerrinnen sollte.«

Inge Deutschkron, Jüdin und Holocaust-Überlebende, erzählt, wie unendlich schwer sich ihre Familie getan hat, den von den Behörden gesuchten Vater zur Ausreise zu bewegen. Er tat es noch rechtzeitig, ging aber alleine. »Am 19. April 1939 fuhr mein Vater nach Großbritannien. Am Anhalter Bahnhof verabschiedeten sich seine drei Geschwister und natürlich meine Mutter und ich. Die Geschwister weinten, als ahnten sie ihr Schicksal voraus. Tatsächlich hat nicht einer von ihnen überlebt.« Inge und ihre Mutter lebten ab 1943 illegal in der Hauptstadt.

Deutschkron schildert, wie sich die Schlinge langsam zuzog. »Die Juden eilten von Konsulat zu Konsulat, standen oft Stunden lang in der Schlange der Wartenden, um sich über mögliche Einreisebedingungen zu informieren. Dabei mussten sie feststellen, dass die meisten Länder unerfüllbare Bedingungen stellten (...) Es war wie ein Gesellschaftsspiel, das niemals endete, wenn sie verzweifelt vor einer Weltkarte saßen und mit den Fingern ein Land suchten, das sie einlassen würde.«

Deportation Im Jahr 1940 konnten nur noch 15.000 Juden Deutschland verlassen, bis zum Erlass des offiziellen Auswanderungsverbotes folgten weitere 8.000. 1942 bis 1945 entkamen nur etwa 8.500 Juden aus Deutschland, illegal.

Der Forscherin Beate Kosmala von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zufolge hielten sich im Herbst 1941, zu Beginn der Deportationen, noch 164.000 von den Nazis zu Juden erklärte Menschen im Reichsgebiet auf, oft ältere, verarmte und weitgehend isolierte Personen.

Tagebuchaufzeichnungen belegen, dass die Betroffenen ihre Situation oft falsch einschätzten. Anna Drach, Krankenpflegerin im Jüdischen Krankenhaus in Berlin, schrieb über die ersten Transporte gen Osten: »Damals glaubten noch alle an die Umsiedlung.« Ähnlich beschwichtigend äußerte sich der Anwalt Alfred Cassierer: »Wir dachten, es wird in Polen nicht so gemütlich sein, aber man wird leben können.«

Widerstand Rund 10.000 bis 12.000 Verfolgte überlebten in Deutschland in der Illegalität, unterstützt von Helfern. Die Erinnerung an die risikobereiten Regimegegner hält die Gedenkstätte »Stille Helden« an der Rosenthaler Straße in Berlin wach, die zur Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand gehört. Sie dokumentiert, wie couragierte Nichtjuden die Verfolgten mit Ausweispapieren versorgten, Quartiere bereitstellten und Essen abzweigten. »Weit mehr als die Hälfte der bekanntgewordenen Hilfeleistenden waren Frauen«, betont Forscherin Kosmala.

Zu Beginn der NS-Herrschaft hatten die Behörden noch alles daran gesetzt, die deutschen Juden zum Auswandern zu bewegen. Heydrich hatte Ende 1938 erklärt, er rechne mit einer »Auswanderungsaktion, die sich auf mindestens acht bis zehn Jahre erstreckt«. Wann aus der Vertreibungspolitik der Nationalsozialisten Vernichtungspolitik wurde, ist unter Historikern umstritten.

Im Herbst 1941 wendete sich das Blatt und die Deportationen begannen. Wenige Monate später, im Januar 1942, fiel auf der Wannseekonferenz der formale Beschluss zum Massenmord an den europäischen Juden. Bis Kriegsende wurde mehr als sechs Millionen Juden ermordet.

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025

Berlin

Margot Friedländer Preis wird verliehen

Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung gehe an Personen, die sich für Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie einsetzen

 15.09.2025

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  14.09.2025

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke verbringt viel Zeit in Kyjiw und Odessa – wo man den Davidstern offen tragen kann und jüdisches Leben zum Alltag gehört. Hier schreibt er, warum Deutschland ihm fremd geworden ist

von Andreas Tölke  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025