Initiative

Unter einem Dach

In Berlin hat sich der Jüdische Liberal-Egalitäre Verband innerhalb des Zentralrats gegründet

von Joshua Schultheis  27.04.2023 09:14 Uhr

Das Leo-Baeck-Haus in Berlin ist der Hauptsitz des Zentralrats der Juden. Foto: Marco Limberg

In Berlin hat sich der Jüdische Liberal-Egalitäre Verband innerhalb des Zentralrats gegründet

von Joshua Schultheis  27.04.2023 09:14 Uhr

Die Erleichterung war Rebecca Seidler deutlich anzumerken. »Die letzten Wochen waren eine anstrengende Zeit, aber mit einem schönen Ergebnis«, sagte die Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen und Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover dieser Zeitung. Vergangenen Donnerstag war sie im Leo-Baeck-Haus in Berlin, um an der Gründungssitzung des Jüdischen Liberal-Egalitären Verbandes (JLEV) unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland teilzunehmen.

»Alles lief wie gewünscht und geplant«, freute sich Seidler, frischgebackene Co-Vorsitzende des neuen Verbandes. Mit JLEV sei nun endlich eine »liberale Vertretung vollumfänglich im Zentralrat angekommen«. Nun gelte es, »gemeinsam das jüdische Leben in Deutschland zu gestalten«. Neben ihrer eigenen gehören JLEV noch acht weitere liberale beziehungsweise egalitäre Gemeinden an, etwa aus Göttingen, Berlin, Freiburg oder Kassel.

PERSPEKTIVE Auch der Egalitäre Minjan in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main hat sich JLEV angeschlossen. Für dessen Rabbinerin Elisa Klapheck ist die Verbandsgründung der »endgültige Abschied von dem Vorurteil, das liberale Judentum sei nur eine Abweichung und das wahre Judentum ist orthodox«. Tatsächlich habe sich der Zentralrat zu lange nicht wirklich für das liberale Judentum interessiert. »Das ist nun vorbei.« JLEV weise eine »neue Perspektive für die Zukunft« auf, so Klapheck. In dem nun angebrochenen Abschnitt sieht sie mehr Miteinander und Zusammenarbeit, auch innerhalb der liberalen und egalitären Bandbreite.

Klapheck versteht den Egalitären Minjan von Frankfurt als eine Art Vorläufer-Modell von JLEV. Auch in der Main­metropole seien »alle unter einem Dach«. Im großen Gebäude der Frankfurter Westend-Synagoge existieren parallel drei Synagogen, eine davon ist die liberale Synagoge, sie ist Teil der Einheitsgemeinde. »Das ist das Frankfurter Modell,« sagt Klap­heck. Dies sei nun auch »im Zentralrat die Politik«.

Zur zweiten Co-Vorsitzenden von JLEV wurde Sarah-Elisa Krasnov gewählt. Die Stellvertretung übernehmen Achim Doerfer und Tatjana Mass. Neben Rabbinerin Klapheck fungieren Ruth Geiss-Friedlander sowie Cornelia Haberlandt-Krüger als Beisitzerinnen. Der Sitz des Verbandes ist in Berlin.

strömungen Auf der Gründungsveranstaltung von JLEV sprach der Präsident des Zentralrats ein Grußwort. »Die Gründung des liberal-jüdischen Verbandes unter dem Dach des Zentralrats ist ein starkes Signal der Vielfalt in der Einheit«, sagte Josef Schuster. »Die jüdische Gemeinschaft steht fest zusammen.« Er betonte, dass der Zentralrat »alle Strömungen des Judentums gleichermaßen« unterstütze. An die anwesenden Vertreter der JLEV-Mitgliedsgemeinden gewandt, sagte er: »Ich freue mich auf Ihre starke liberal-jüdische Stimme.«

Josef Schuster nennt die Gründung »ein starkes Signal der Vielfalt in der Einheit«.

Nach der Sitzung würdigte Schuster die Errungenschaften des liberalen Judentums: »Der einflussreichste Vertreter des liberalen Judentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschlands war Leo Baeck, der Namensgeber des heutigen Sitzes des Zentralrats der Juden.« Das zeige, »welche Bedeutung das liberale Judentum auch heute noch hat«. Die in Deutschland wiederauflebenden progressiven Strömungen knüpften »an Traditionen jüdischen Lebens vor der Schoa an«, so Schuster.

AUFARBEITUNG Neben JLEV gibt es einen weiteren liberalen Gemeindeverband in Deutschland: Die Union progressiver Juden (UpJ) existiert seit 1997. Ausgangspunkt für die Gründung von JLEV »waren die öffentlich gewordenen Vorwürfe gegen Rabbiner Walter Homolka«, wie der Vorstand des neuen Verbandes in einer Pressemitteilung schrieb. Bis Ende vergangenen Jahres war Homolka der Vorsitzende der UpJ. »In der Auseinandersetzung über die Aufarbeitung dieser Vorwürfe und ihrer strukturellen Hintergründe« habe die UpJ einen »befremdlichen Umgang« gezeigt, heißt es weiter. »Dies machte die Gründung eines eigenen Dachverbandes erforderlich.«

Die aktuelle Vorsitzende der UpJ, Irith Michelsohn, wies auf Anfrage dieser Zeitung den Vorwurf der unzureichenden Aufarbeitung »entschieden zurück«. Michelsohn bedaure zwar den anstehenden Austritt einiger UpJ-Gemeinden. Aber: »Unsere Arbeit wird durch den neuen Verband nicht beeinflusst werden.« Ungefähr zwei Drittel der regulären UpJ-Mitgliedsgemeinden haben sich JLEV bisher nicht angeschlossen. Derzeit lägen sogar weitere Aufnahmeanträge neuer Gemeinden bei der UpJ vor, erklärt Michelsohn. Das zeige, dass die Union »an Bedeutung für das progressive Judentum auch weiter gewinnt«.

Rebecca Seidler sagt, der Bruch mit der UpJ sei unvermeidlich gewesen. »Wir haben immer wieder versucht, unsere Kritik anzubringen, aber wir wurden nicht angehört.« Da die Regularien der UpJ nur zum Jahresende einen Austritt erlauben, sind die meisten JLEV-Mitglieder aktuell noch Teil der UpJ. »Im ersten Gründungsjahr soll eine Doppelt-Mitgliedschaft möglich sein«, so Seidler. Bis es so weit ist, will sie sich jedoch nicht mehr bei der UpJ einbringen. Durch die Arbeit an und mit JLEV habe sie »wieder viel mehr Freude, in die Zukunft zu blicken«.

Für den Verband steht die Organisation des ersten Schabbatons an.

Der neue Verband hat sich Regeln gegeben, die Machtmissbrauch verhindern sollen. »JLEV ist demokratisch«, steht in den ethischen Richtlinien des Verbands. »Die Kommunikation miteinander ist transparent und konstruktiv.« Man lege Wert auf »gegenseitige Solidarität und das Vermeiden von Spaltung«. Meinungsverschiedenheiten sollen »offen und in respektvoller Weise« angesprochen werden. »Eine Machtkonzentration bei einzelnen Personen wird vermieden.«

PROJEKT Ein bereits konkretisiertes Projekt des egalitär-liberalen Verbandes ist das »JLEV Lehrhaus«, das aus verschiedenen Bildungsformaten, online wie in Präsenz, besteht. Beim Seminar »Klej Kodesch« können Interessierte »alles rund um den Gottesdienst lernen«, heißt es auf der Verbandswebsite. Einmal im Jahr soll es ein großes Treffen geben »mit vielen Vorträgen und Workshops zu Themen, die liberale und egalitäre Jüdinnen und Juden interessieren«. Zudem wird den Mitgliedern ein Gemeinde-Coaching angeboten.

Für Rebecca Seidler und den neuen Verband steht nun die Organisation des ersten gemeinsamen Schabbatons an. »Im Juli werden wir in Hannover ein ganzes Wochenende gestalten, mit allen Mitgliedern von JLEV, Gottesdiensten, Schiurim und Workshops«, sagt die Co-Vorsitzende. Auf der Tagung sollen grundlegende Dinge besprochen werden: »Wo wollen wir hin, was ist unsere Vision, wie wollen wir unsere Pläne umsetzen?«

Der Anspruch, den JLEV an sich selbst hat, ist offenkundig groß: Es geht den Mitgliedern um nicht weniger als die Neuaufstellung des liberalen und egalitären Judentums in Deutschland.

www.jlev.de

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