Vortrag

»Überwindung mittelalterlicher Zustände«

Rolf Kießling und die Archivarin Sylvia Krauss im Gemeindezentrum Foto: Marina Maisel

Für Münchens Juden war es ein Grund zum Feiern: das »Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern«, das am 10. Juni 1813 veröffentlicht wurde. Bei einem Festvortrag zum 200-jährigen Jubiläum des Edikts beleuchtete der Historiker Rolf Kießling im Gemeindezentrum jene Entwicklungen, mit denen die Stellung der Juden in der Verfassung des Staatsreformers Maximilian Graf Montgelas ihren Niederschlag fand.

Was für Münchens Juden ein großer Erfolg war, relativiere sich indes bei genauerer Betrachtung ein wenig, führte der Historiker aus. Hinsichtlich der Aufklärung sei das Edikt zwar eine »Überwindung der vormodernen, mittelalterlichen Zustände« gewesen. Andererseits hätten antijüdische Vorurteile weiterhin Bestand gehabt. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, »bis die volle Freizügigkeit gewährt und die Integration in die Mehrheitsgesellschaft auch tatsächlich umgesetzt war«, so Kießling.

freiheit Mit der neuen Verfassung des Reformers Montgelas habe für Juden jedoch auch zweifelsfrei die Zeit begonnen, in denen sie bürgerliche Rechte und die »vollkommene Gewissensfreiheit in einer Privatkirchengesellschaft« erhielten, erklärte Kießling. Damit sei der Weg zur Gründung von jüdischen Gemeinden geebnet worden. Vorwiegend auf dem Land habe es solche Strukturen bereits gegeben.

Kießling sprach im Weiteren über die Unterschiede zwischen Zentrum und Provinz, anhand derer sich die Kehrseiten der neuen Regelung gezeigt hätten. So sei der Wirkungskreis von Rabbinern auf »ausschließlich kirchliche Verrichtungen« beschränkt gewesen. Ihre Ausbildung »wurde kontrolliert und ihre Anstellung per Eid bestätigt«. Die Errichtung eigener Schulen sei »an geprüfte Lehrer gebunden gewesen wie auch das Studium der jüdischen Gottesgelehrtheit an den vorbereitenden Besuch einer öffentlichen Studienanstalt«. Damit war die Ausbildung an den Jeschiwot in Frage gestellt.

Kießlings These: »Die Emanzipation der Juden, wie sie sich in den bayerischen Reformgesetzen niederschlug, war trotz mancher Formulierungen nicht primär ein Produkt der Aufklärung, sondern Endpunkt einer langfristigen Entwicklung staatlicher Verdichtung.« Deutlich werde dies auch im Alltag der kleinen und größeren Gemeinden in Franken und Schwaben, die in einer vielschichtigen Herrschaftsordnung und in einem komplexen Neben-, Gegen- und Miteinander von Juden und Christen lebten.

autonomie Ab dem Ende des 17. Jahrhundert habe sich etwa die Entwicklung angebahnt, eigenständige Traditionen jüdischer Gemeindeautonomie zu beseitigen. Dies, so Kießling, »entsprach dem generellen Modernisierungsschub der bürokratischen Zentralisierung«. Dazu komme das Selbstverständnis jüdischer Gemeinden, »wie die Christen im Dorf normale Untertanen zu sein«.

Damit fänden sich in dem Judenedikt von 1813 Faktoren wieder, »die schon seit Langem in den verschiedenen schwäbischen – und auch fränkischen – Territorien diskutiert und praktiziert wurden«. Neu an dem Edikt sei seine Gültigkeit im gesamten bayerischen Staat gewesen. Es habe die Gründung der Kultusgemeinde in München ermöglicht – für die Landgemeinden mit einer etablierten Struktur war es kein Befreiungsakt.

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

München

Nicht zu überhören

Klare Botschaften und eindrucksvolle Musik: Die 39. Jüdischen Kulturtage sind eröffnet

von Esther Martel  23.11.2025

Berlin

Gegen den Strom

Wie der Ruderklub »Welle-Poseidon« in der NS-Zeit Widerstand leistete und bis heute Verbindung zu Nachfahren seiner jüdischen Mitglieder pflegt

von Alicia Rust  23.11.2025

Porträt

Glücklich über die Befreiung

Yael Front ist Dirigentin, Sängerin, Komponistin und engagierte sich für die Geiseln

von Alicia Rust  22.11.2025

Berufung

Schau mal, wer da hämmert

Sie reparieren, organisieren, helfen – und hören zu: Hausmeister von Gemeinden erzählen, warum ihre Arbeit als »gute Seelen« weit mehr ist als ein Job

von Christine Schmitt  21.11.2025

Spremberg

Gegen rechtsextreme Gesinnung - Bürgermeisterin bekommt Preis

Rechtsextreme sprechen im ostdeutschen Spremberg vor Schulen Jugendliche an. Die Schüler schütten ihrer Bürgermeisterin ihr Herz aus - und diese macht das Problem öffentlich. Für ihren Mut bekommt sie jetzt einen Preis

von Nina Schmedding  21.11.2025

Mitzvah Day

Im Handumdrehen

Schon vor dem eigentlichen Tag der guten Taten halfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats bei der Berliner Tafel, Lebensmittel zu prüfen

von Sören Kittel  20.11.2025

Interview

»Selbst vielen Juden ist unsere Kultur unbekannt«

Ihre Familien kommen aus Marokko, Libyen, Irak und Aserbaidschan. Was beschäftigt Misrachim in Deutschland? Ein Gespräch über vergessene Vertreibungsgeschichten, sefardische Synagogen und orientalische Gewürze

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025