Jüdisches Museum Berlin

Überlebende erzählen

Ein betagter britischer Gentleman betritt die Bühne der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin. Dunkelblauer Zweireiher, bunte Fliege, große Brille, volles, graues Haar. Er beginnt seine Ausführungen in perfektem Deutsch, was niemanden verwundert. Schließlich hieß Henry Wuga früher einmal Heinz Wuga und war ein Nürnberger Junge. Im Februar 1924 in der Frankenmetropole geboren, verlebte er die ersten neun Jahre seines Lebens eine unbeschwerte Kindheit.

Nach der Machtergreifung der Nazis begann der Terror gegen die jüdische Bevölkerung in jener Stadt, in der Julius Streicher die antisemitische Hetzschrift »Der Stürmer« herausbrachte und Hitler seine Reichsparteitage abhielt. »In Nürnberg hat der Schrecken früher begonnen als anderswo im Reich«, berichtet der Zeitzeuge. Selbst auf die Synagoge in der Hans-Sachs-Gasse gab es bereits vor dem November 1938 einen ersten Brandanschlag.

Henry Wuga und seine Frau Ingrid sind nicht zum ersten Mal hier im Jüdischen Museum. Bislang waren es vorwiegend Schulklassen aus allen Teilen des Landes, die in zahlreichen Workshops ihnen und anderen Zeitzeugen Fragen stellen konnten. Seit 2004 trafen mehr als 8000 Schüler auf über 100 Schoa-Überlebende aus der ganzen Welt. Nun aber sollen die letzten lebenden Zeitzeugen ihre wechselvollen Biografien einem breiteren Publikum nahebringen.

»Ohne Erinnerung keine Zukunft« heißt die neu kreierte Gesprächsreihe. Erster Gast auf dem Podium war Ende Oktober Henry Wuga aus Glasgow, der 1938 als Heinz Wuga mit einem der Kindertransporte seine damalige Heimat in Richtung Großbritannien verließ.

sprache Seltene Filmaufnahmen werden eingespielt. Stumme Szenen in bedrückendem Schwarz-Weiß: der Abschied der Kinder von ihren Eltern, die Überfahrt auf der Kanalfähre und die Ankunft in der neuen Heimat England. Unsichere, aber auch neugierige Kinderblicke sind zu sehen, während ihre Visa kontrolliert werden. Es sind Blicke in eine ungewisse Zukunft.

»Ich spreche das Deutsch eines 15-Jährigen«, behauptet Henry Wuga – und schafft es mit diesem Satz, der Situation die Schwere zu nehmen. Damit hat er endgültig die Herzen der Zuschauer im fast vollständig besetzten Auditorium erobert. Tatsächlich nämlich sind seine deutschen Sprachkenntnisse nahezu perfekt. Und so erzählt Henry Wuga, wie er damals den Kindertransport erlebte. Was ihn von den meisten Kindern unterschieden habe, sei der Umstand gewesen, dass er nicht zum ersten Mal von seinen Eltern getrennt gewesen sei. Er hatte eine Kochlehre in einem orthodoxen Hotel in Baden-Baden begonnen, das eigenartigerweise den Namen »Tannhäuser« trug.

Die jüngeren Passagiere aber litten schon zu Beginn der Fahrt unter entsetzlicher Sehnsucht nach den Eltern. »Sie weinten nicht, sie heulten«, erinnert sich Henry Wuga. Er weiß aber auch noch, wie von ihnen allen eine ungeheuere Last abgefallen war, als an der holländischen Grenze die SA-Bewacher in ihren braunen Uniformen wegtraten und die Kinder in Bentheim in einen anderen Zug umstiegen. Es war der Zug in die Freiheit.

wendungen Dann erzählt Henry Wuga von der Ankunft im Vereinigten Königreich, dessen Regierung diese Kindertransporte organisiert hatte. Er selbst konnte nach kurzem Schulbesuch in Schottland seine Kochlehre wiederaufnehmen, und als er während des Krieges auf der Isle of Wight interniert war, fand er sich in der Küche wieder. Dort aber hätte er gar nicht sein dürfen. Da er minderjährig war, wurde er schon nach wenigen Wochen zu seiner Pflegefamilie zurückgeschickt.

Das Kochen blieb zeitlebens nicht nur ein Beruf, sondern seine Leidenschaft. Einige Zeit nach dem Krieg baute er in Glasgow einen koscheren Catering-Service auf, den er viele Jahre betrieb. »It’s a positive story«, zieht Mister Wuga mit britischem Zungenschlag ein Fazit seines Lebens. Dazu gehört auch, dass seine Mutter, zunächst durch den katholischen Ehemann in »privilegierter Mischehe« geschützt, nach dessen frühem Tod in einem Dorf bei Bamberg versteckt überlebte.

refugee club Lange Zeit jedoch war keineswegs klar, ob Heinz Wugas Leben zu einer »positive story« werden würde. Es ist der einfühlsamen Gesprächsführung von Aubrey Pomerance, dem Archivleiter des Jüdischen Museums, zu verdanken, dass sich der 93-Jährige dazu animieren lässt, die zahlreichen Wendungen seines Schicksals sehr bildhaft zu schildern – etwa vom Besuch der Israelitischen Realschule in Fürth, in der Nachbarstadt von Nürnberg.

Zahlreichen seiner Mitschüler gelang später die Flucht in die Vereinigten Staaten, wo sie nach dem Krieg eine Gruppe der Ehemaligen gründeten. Auch Heinz Wuga nahm regelmäßig daran teil und traf dabei einen Mitschüler, der in Fürth einst die Klasse über ihm besuchte und inzwischen ziemlich prominent war: Henry Kissinger.

Die offenbar auf 90 Minuten konzipierte Veranstaltung verging nicht zuletzt durch die emotionalen Schilderungen des Zeitzeugen Wuga wie im Fluge. Fast ein wenig schade, dass seine Frau Ingrid nicht auf die Bühne gebeten worden war. Sie war mit einem Kindertransport aus Dortmund nach England gekommen, wo sie Henry im Glasgower »Refugee Club« traf. Vor mittlerweile 73 Jahren haben die beiden geheiratet. Allerdings, und dies mag der Grund für die Entscheidung gewesen sein, Henry diesmal allein in den Fokus zu stellen, spricht sie nicht mehr so gut Deutsch wie ihr Mann.

auftakt Dem Jüdischen Museum ist mit dieser Veranstaltung ein erfolgreicher Auftakt für die neue Gesprächsreihe gelungen. Der nächste Termin steht auch schon fest: der 4. Dezember. Dann kommt Kurt Roberg in den Saal der W. Michael Blumenthal Akademie und wird darüber berichten, wie er 1938 im Alter von 14 Jahren in die Niederlande floh, wohin ihm seine Familie folgte.

Seinen Eltern und Brüdern gelang es, über Kuba in die USA einzureisen. Kurt aber blieb zunächst zurück. Er erlebte die Bombardierung Rotterdams und musste im März 1941 sogar nach Berlin zurückkehren. Die Erzählung über die Umstände, die schließlich dazu führten, dass er überlebte und der Nachwelt davon berichten kann, verspricht, spannend zu werden.

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