Porträt der Woche

»Über alles reden«

»Gemeinde begreife ich als etwas Lebendiges«: Joram Ronel (45) lebt in München. Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

»Über alles reden«

Joram Ronel ist Psychoanalytiker und gründete ein Café für Schoa-Überlebende

von Katrin Diehl  05.02.2018 18:53 Uhr

Alles habe ich in München »erledigt«: Grundschule, Gymnasium, Studium. Geboren wurde ich selbstverständlich auch hier. 1972 war das. Meinen Beruf übe ich seit Jahren im Klinikum rechts der Isar aus – ich bin ausgebildeter Internist und heute als Psychosomatiker und Psychoanalytiker tätig. In München war ich, in München bin ich, in München werde ich bleiben. Dachte ich. Manchmal bieten sich mir Gelegenheiten, die mir zuvor überhaupt nicht in den Sinn gekommen sind.

Dass ich sie dann hin und wieder auch noch wahrnehme, das kann mich zum Staunen über mich selbst bringen. Das Leben nimmt plötzlich eine etwas andere Richtung – was ich ein wenig nervös beobachte.

Sich in zu viel Gemütlichkeit einzurichten, das allerdings finde ich dann noch ein wenig beunruhigender. Ich fühle mich tatsächlich als Münchner, empfinde München als Zuhause für mich, meine Frau und meine zwei Jungs von sechs und acht Jahren, und bin im Moment dennoch dabei, mich in Richtung Schweiz aufzumachen.

Schweiz Im April werde ich im Kanton Aargau als Chefarzt in einer Klinik anfangen. Sie heißt Barmelweid und liegt ganz wunderbar in den Bergen. Irgendwie hat einfach alles von Anfang an gepasst: meine Vorstellungen, deren Vorstellungen, die wertschätzende und menschliche Haltung meiner künftigen Kollegen. Meine Frau, die übrigens auch Ärztin ist, und die Kinder werden erst einmal in München wohnen bleiben.

Ich führe hier auch einige Projekte weiter, wie zum Beispiel das »Café Zelig«, einen wöchentlichen Treff für Schoa-Überlebende, den ich vor etwa zwei Jahren ins Leben gerufen habe mit der Sozialabteilung der Münchner Gemeinde als Kooperationspartner und einigen Unterstützern an unserer Seite.

Mindestens einmal pro Monat versuche ich, mit von der Partie zu sein, wenn die Menschen um die liebevoll gedeckten Kaffeetische herum sitzen, sich miteinander unterhalten oder auch unterhalten werden.

Mein Verhältnis zur Münchner Gemeinde hatte einen etwas holprigen Start, der wahrscheinlich mehr über die Dynamik der Juden in Deutschland in den 80er-Jahren aussagt als über mich. Ich muss, damit man das versteht, ein bisschen ausholen.

stolperstein Meine Eltern kamen beide aus Israel nach Bayern. Meine Mutter war sehr jung, 18 Jahre alt, und stammte ursprünglich aus einer assimilierten Berliner Familie, die Gott sei Dank schon 1932 nach Palästina ausgewandert war.
Da war also mein Großvater Walter Hoppe, der in Berlin als Psychiater und Nervenarzt arbeitete – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und dann war da die Großmutter Felicia, die sehr engagiert auch die Einreise fast aller restlichen Familienmitglieder vorantrieb. Sie hat die Ämter der britischen Mandatsmacht in Palästina aufgesucht, hat Beamte bezirzt, hat keine Ruhe gegeben. Meine Großmutter hat ihre Familie gerettet. So lässt sich das, denke ich, sagen.

Kurt Hoppe, der Bruder meines Großvaters, ist, weil er sich mit seiner nichtjüdischen Frau sicher gefühlt hat, in Deutschland geblieben. Er wurde in Auschwitz ermordet, worüber man in der Familie meiner Mutter so gut wie nie sprach.

Durch eine Berliner Stolperstein-Initiative, die eine Jerusalemer Tante von mir in Gang gesetzt hat, haben wir, auch mein Münchner Cousin, Dinge erfahren, von denen wir bisher nichts wussten und die uns besser verstehen lassen. Auch meine Mutter fängt eigentlich erst jetzt so richtig an, mehr über das nachzudenken und zu sprechen, was nicht erzählt wurde. Nicht, dass sie erst jetzt dazu fähig wäre. Es ist eher so, dass wir sozusagen gemeinsam entdecken, wie erzählenswert das alles ist.

gemeinschaft Mit den Leuten im Café Zelig ist das natürlich ein wenig anders. Da bricht sich die Vergangenheit oftmals endlich Bahn. Als unsere Idee von dem Treffen Gestalt annahm, waren wir wirklich überrascht darüber, wie dieses Angebot angenommen wurde. Wir verstanden schnell: Die Menschen sind erst jetzt so weit. Sie wollen über alles reden, bevor es zu spät ist. Und das sollen sie auch können dürfen.

Aber – und das habe ich als Therapeut, der mit so einer Art kathartisch-analytischer Haltung angetreten ist, gelernt: Sie haben die Möglichkeit zu reden, aber sie müssen nicht. Sie haben auch das Recht zu schweigen. Reden, schweigen – beides kann helfen.

Wenn man Menschen gefunden hat, von denen eigentlich jeder weiß, was es bedeutet, ein Überlebender zu sein, denen man sich nicht erklären muss, dann ist das sehr wertvoll. Denn gerade, wenn niemand irgendwelchen Erwartungen entsprechen muss, kann etwas entstehen.

Und es ist etwas entstanden! Aus den Überlebenden ist eine Gemeinschaft geworden, eine kollektive Gruppe. Das ist etwas sehr Besonderes. Jetzt, nach 70 Jahren, die für die Menschen vergangen sind, gibt es endlich einen Raum für sie. Als nächsten Schritt möchten wir auch etwas für die zweite Generation aufbauen. Wie schwierig es ist, finanzielle Unterstützung für so etwas zu bekommen, davon kann ich ein Lied singen. Locker lassen werden wir trotzdem nicht.

familie Zurück zu meiner Mutter, die also in den 60er-Jahren in München angekommen ist, wie übrigens einige Israelis, darunter auch mein Vater, der aus einer sefardischen Familie stammt, die sich in Bulgarien in letzter Minute vor der Deportation hatte retten können. Die beiden lernten sich – wie sich das gehört – auf einer Münchner Chanukka-Party kennen. Sie heirateten und bekamen zwei Söhne. Die jüdische Gemeinde war ihnen, weil sie aus Israel anderes kannten, irgendwann fremd, und sie traten aus.

Ich als 18-Jähriger und gerade von der Bundeswehr Befreiter wollte das bewusst anders und entschied mich, wieder einzutreten. Bewaffnet mit einer Plastiktüte, in die mir meine Mutter alle nötigen Papiere hineingesteckt hatte, machte ich mich also auf, ging selbstbewusst in die Reichenbachstraße, wo ich als potenzieller Neuzugang äußerst freudig begrüßt wurde, bis eine Stimme aus einem Hinterzimmer zu Langsamkeit mahnte.

»Das ist doch der Junge von den Ronels, der ist nicht mehr Jude, weil seine Eltern ausgetreten sind.« Ich war irritiert, ich war verletzt und entschied, den Inhalt meiner Tüte nicht auszuleeren. Ich wollte nur weg. Die Stimmung, die da Ende der 80er-Jahre in der Gemeinde geherrscht hat, lässt sich im Nachhinein sicher irgendwie erklären. Für mich war damals die Sache jedenfalls gegessen. Ich beschloss, dass ich meine Meinung erst dann wieder ändern würde, wenn der Gemeinderabbiner persönlich zu mir käme und mich darum bäte.

Und was soll ich sagen? Der Rabbiner, dem meine Geschichte durch eine Freundin zu Ohren gekommen war, kam tatsächlich auf mich zu, und ich konnte – ohne irgendein Papier vorzuzeigen – wieder eintreten.

eisbär Religiös funktioniere ich natürlich trotzdem nicht. Ich begreife die Gemeinde als etwas Lebendiges und finde auch hier und dort meine Zugänge. Meine Kinder haben, obwohl meine Frau keine Jüdin ist, eine stabile Beziehung zum Judentum. Wir nutzen mit ihnen die Möglichkeiten, die sich uns ohne Komplikationen bieten. Die Jungs lieben Makkabi, und sie lieben Israel.

Einmal habe ich ihnen zu Pessach in einem ehrgeizigen Projekt das »Ma Nishtana« beigebracht, was sie dann prompt bei einem Besuch im Zoo auch lauthals dem Eisbären vorgesungen haben. Das hatte schon etwas Komisches, bildet aber als kleine Szene auch ganz gut unser Judentum ab, so wie wir es halt leben.
In Israel sind meine Kinder die Spezialisten, was Fragen wie »Welcher Strandabschnitt ist der beste?« anbelangt. Mir steht das Land sehr nahe. Als Student habe ich für einige Zeit in Jerusalem im Hadassa-Krankenhaus auf dem Scopusberg gearbeitet. Ich kenne die Bibliotheken dort sehr gut, war in der Klinik während schrecklicher Attentate in der chirurgischen Nothilfe tätig und half auch in der Abteilung für Psychiatrie mit.

jazz Für Gelegenheiten offenzubleiben, das, denke ich, tut dem Leben ganz gut. Seit ich zum Beispiel als Student verstanden habe, dass ich als Jazzpianist im Mariandl, so eine Art Münchner Kaffeehaus, ein bisschen mehr dazuverdienen kann als als »Hilfsschwester«, und es mir außerdem Freude macht, ist das bis heute ein wichtiger Teil von mir geblieben.

Ich sitze am Klavier, habe Musiker um mich und jazze. Mehr Hobby brauche ich nicht, oder sagen wir mal so: Mein größtes Hobby sind meine zwei Jungs – die inzwischen auch schon ihre eigenen Geschichten zu erzählen haben.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl.

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