Bildung

Tacheles aus den Gemeinden

Kulturtage, Jewrovision, Limmud und Jugendkongresse zeigen ein neues Judentum mit viel Zuversicht. Doch in den »Niederungen des lokalen Gemeindealltags« bleibt noch jede Menge an Problemen und Konflikten zu lösen. Personalmangel, Überalterung, Bildungsdefizite und nicht zuletzt die Abwesenheit der Jüngeren machen vielen Gemeinden mächtig zu schaffen. Genau das hatte die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland wohl bei ihrem Seminar »Nach der Zuwanderung – wie weiter?« vergangene Woche in Berlin im Blick. Vorsitzende und Vorstände und Geschäftsführer von rund 20 Gemeinden aus ganz Deutschland fanden sich zusammen und redeten Tacheles.

»Vorangegangene Seminare haben gezeigt: Es gibt vergleichbare Probleme. Genau daran wollen wir arbeiten«, ließ Doron Kiesel, Sozial- und Erziehungswissenschaftler und Professor an der Fachhochschule Erfurt sowie wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, gleich zu Beginn wissen und die Diplom-Pädagogin und Leiterin der Bildungsabteilung, Sabena Donath, ergänzte: »Lasst uns die Zeit nutzen für offenen Austausch und möglichst intensive Gespräche!«

Erfahrungsberichte Davon gab es dann in der Tat reichlich. Allein schon die Erfahrungsberichte aus Kiel, Köln und Krefeld boten einen Mikrokosmos heutiger Herausforderungen. Viktoria Ladyshenski beschrieb anschaulich, wie GUS-Zuwanderer die Jüdische Gemeinde Kiel und Region in den 90er-Jahren quasi aus dem Nichts heraus formten und dabei eine solide Bildungs- und Sozialarbeit etablierten. Auch die Verbindungen zum nichtjüdischen Umfeld seien heute hervorragend, und dennoch verließen manche wieder die Gemeinde. »Wenn plötzlich ein Austrittsschreiben kommt, rufe ich dort schon auch mal an und frage, was eigentlich los ist. Manchmal hilft so ein Gespräch tatsächlich«, berichtete Ladyshenski.

Austritte sind ein deutschlandweites Problem, mehrere Hundert Fälle pro Jahr hält die Statistik der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) fest. Wenn junge Leute die Gemeinden verlassen, trifft es diese in doppelter Weise, denn nur rund 20.000 Gemeindemitglieder befinden sich in einem Alter unter 30 Jahren. Sind die Angebote für junge Erwachsene nicht attraktiv genug, wo drückt der Schuh wirklich?, fragen die Veranstalter nach.

»Die Machanot für Kinder und Jugendliche sind teilweise überbucht, das Interesse der jungen Familien ist also prinzipiell da«, gab Doron Kiesel zu bedenken. Auch Ruth Schulhof-Walter von der Synagogen-Gemeinde Köln, einer der größeren in Deutschland, wundert sich: »Unsere Kinder und Jugendlichen durchlaufen Kindergarten, jüdische Schule, besuchen Machanot und Jugendzentrum. Später treten manche dann doch aus, um Steuern zu sparen. Irgendetwas muss auf diesem Weg schiefgelaufen sein.«

Junge Erwachsene Michael Rosow von der Jüdischen Gemeinde Krefeld – mit ihren knapp 1000 Mitgliedern eine »mittelgroße Gemeinde« im Lande – sieht die Versorgung der älteren Mitglieder recht gut aufgestellt. Eine viel schwieriger zu bewältigende Aufgabe sei, beständig und erfolgreich mit jungen Erwachsenen zu arbeiten.

Dass junge Juden in Deutschland durchaus Interesse an Religion und religiöser Gemeinschaft entwickeln können, belegen gleichwohl aktuelle Beispiele. Sabena Donath verwies unter anderem auf die ursprünglich von der Lauder Foundation angeregte Initiative »Jewish Experience« in Frankfurt am Main. »Junge jüdische Familien haben sich hier mit viel Begeisterung zusammengefunden. Sie sind traditionell ausgerichtet und zugleich sehr bildungsorientiert, feiern gemeinsam Gottesdienste und haben fast jeden Monat externe Referenten zu Gast, häufig auch internationale Kapazitäten. Die Frankfurter Gemeinde unterstützt ›Jewish Experience‹, und es ist als Erfolgsmodell sicher auch für andere Städte denkbar«, resümierte Donath.

Professionalität Ein weiteres Thema, das sich durch beide Seminartage zog und von allen intensiv debattiert wurde, war »Professionalität«. Selbstkritisch schätzten viele Teilnehmer ein, dass bestimmte Kompetenzen in ihren Gemeinden – angefangen von einer ausreichenden Willkommenskultur und Vernetzung bis hin zur Fähigkeit, sachgerechte Projektanträge für Stiftungen und Fördereinrichtungen zu erstellen – nur ungenügend vorhanden seien. Hier machte der stellvertretende ZWST-Direktor Aron Schuster den Teilnehmern ausdrücklich Mut: »Die Stärkung der Ehrenamtlichen ist eines unserer wichtigsten Ziele, und dafür gibt es auch Programme. Bitte nehmen Sie unsere Hilfe in Anspruch!«

Der doch recht knapp bemessenen Zeit geschuldet, konnten manche angesprochenen Probleme am Ende nur sehr kurz angerissen werden. Etwas überraschend, kam hierbei auch die bisherige Zufriedenheit – oder Unzufriedenheit – mit Gemeinderabbinern auf den Tisch. Mehrere Seminarteilnehmer signalisierten deutlich einen Bedarf an »niedrigschwelligeren, lebensnäheren religiösen Angeboten«. Ist ein Teil der heutigen Rabbiner möglicherweise zu wenig am Alltag der Menschen dran? Eine spannende Frage, die sicherlich auch von den Rabbinerseminaren in Berlin und Potsdam aufgegriffen werden sollte.

Antonia Yamin

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