Neujahrsempfänge

Selbstverständlich präsent

Klang des Schofar: Rabbiner Andrew Steiman (M.) beim Neujahrsempfang der DIG in Frankfurt/Main Foto: Rafael Herlich

Freude, Küsschen, gute Wünsche: Beim Neujahrsempfang der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) in Frankfurt in der vergangenen Woche wurde deutlich, dass alle Gäste die Kämpfe in Israel und im Gazastreifen ebenso hinter sich lassen wollten wie die antisemitischen Ausschreitungen in Europa. »5775 kann ja nur besser werden als das alte Jahr«, fasste Rabbiner Andrew Steiman zusammen.

Neben dem neu berufenen Geschäftsführer Thorsten Krick war Steiman als Vertreter der Budge-Stiftung eingeladen, weil die »immer Hort und Gastgeber für viele Veranstaltungen der DIG« sei, wie Claudia Korenke, Vorsitzende der DIG Frankfurt, lobte. Vor etlichen Mitgliedern der DIG Frankfurt und ihren Ortsgruppen bundesweit sowie zahlreichen Vertretern aus der Frankfurter Kommunal- und der hessischen Landespolitik betonte Korenke, die DIG tue alles dafür, dass der Wunsch zum Auswandern gegenstandslos werde. Nicht zuletzt der stete Zuwachs an Mitgliedern in der DIG sei ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus.

»Nie wieder« Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann räumte rassistischen Strömungen in seiner Stadt wenig Entfaltungsmöglichkeiten ein. »Die Jüdische Gemeinde Frankfurt ist kein Opferlamm«, gab sich Feldmann kämpferisch. Die Stadt sei stets bereit, das »Nie wieder!« wachzuhalten.

Das manifestiere sich im neuen Mahnmal an der ehemaligen Großmarkthalle ebenso wie bei den Kundgebungen gegen Rassismus und Antisemitismus. Besonders freue ihn, dass Frankfurt ein Treffen von deutschen, deutsch-türkischen und israelischen Jugendlichen in Tel Aviv initiiert hat. »Die Jugendlichen aus Frankfurt und den Partnerstädten Eskisehir und Tel Aviv haben über Monate hinweg Kontakt miteinander, der auch während des Gaza-Konflikts nicht abgebrochen ist«, berichtete Feldmann stolz. Und er werde fortgesetzt.

Dan Shaham, Generalkonsul des Staates Israel, gab sich zuversichtlich, »vor einem spannenden und erfolgreichen neuen Jahr zu stehen«. »Gestärkt durch die Solidarität der DIG« blicke er mit großen Erwartungen aufs Jahr 2015, in dem das 50-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel gefeiert werde. »Wir haben eine ganze Menge auf der Agenda«, kündigte auch Reinhold Robbe, DIG-Präsident und ehemaliger Wehrbeauftragter der Bundesregierung, an.

Dazu zähle etwa eine Ausstellung, um »die vielen Felder zu präsentieren, auf denen Israel und Deutschland bereits hervorragend zusammenarbeiten«. Zum Beispiel die Kooperation von Bundeswehr und den israelischen Streitkräften IDF. »Für uns standen und stehen die Menschen im Vordergrund«, sagte Robbe. Menschen, die ein friedliches neues Jahr brauchten. Das sei das Wichtigste.

Besinnung Den Start in das neue Jahr 5775 feierte die Jüdische Gemeinde Dresden ruhig »in der Familie«, ohne Empfang, Gastredner oder Grußwort der Oberbürgermeisterin, berichtet Gemeindevorsitzende Nora Goldenbogen. Die derzeit angespannte Weltlage regt in Dresden auch an den Hohen Feiertagen eher zu Besinnung als zu Ausgelassenheit an. Goldenbogen und Rabbiner Alexander Nachama wünschten den Gemeindemitgliedern ein süßes und vor allem friedliches neues Jahr.

»Die Nachrichten in diesen Tagen sind leider meist keine positiven«, so Nachama. Der Rabbiner bemerkte, dass der Antisemitismus spürbar zugenommen habe. Er erinnerte an den Konflikt im Gazastreifen und an die Massaker an Christen im Irak. Doch zumindest für die jüdische Bevölkerung in Deutschland sieht er auch Hoffnung. Anders als in den 30er-Jahren rege sich Widerstand dagegen.

»Die Welt schaut dieses Mal nicht weg.« Zeitungen, hohe politische Würdenträger, Stars und Sportler hätten sich klar gegen jede Form von Antisemitismus ausgesprochen. »Wollen wir hoffen, dass nicht nur uns, sondern alle in diesen Tagen Einsicht erreichen möge.« Für das neue Jahr gab Nachama seiner Gemeinde das berühmte Zitat des Dichters Carl August Sandburg auf den Weg: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.«

In Kassel hat der Neujahrsempfang Tradition. Alljährlich wird ein prominenter Redner zu einem Thema eingeladen. In diesem Jahr sprach der Publizist Sergey Lagodinsky, der einst Mitglied der Kasseler Gemeinde war und jetzt in Berlin lebt, über die »Zukunfts-Zukunft«. Er wollte bewusst nicht über die Zukunft der Juden oder des Judentums in Deutschland reden, sondern über »das Jüdische«, auch mit Blick auf die antisemitischen Ausschreitungen im Sommer, von denen auch Kassel betroffen war.

Virtualisiert Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD) hatte zuvor versichert: »Sie sind ein Teil von uns!« Er bezeichnete es als »großes Geschenk, dass wir hier wieder eine Gemeinde haben«. Doch Lagodinsky fragte, welches Bild die nichtjüdische Gesellschaft von heutigen Juden hat. Es beruhe auf einer Konstruktion aus der Zeit nach 1945, der Phase der Trauer über die ermordeten und vertriebenen Juden. In der Abwesenheit von Juden hätten die Deutschen ein Gegenüber konstruiert und so das Jüdische »virtualisiert«.

Dass aber das Jüdische längst nicht mehr auf das Institutionelle oder auf Religion reduzierbar sei, zeige sich spätestens seit der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Die habe in vielen Gemeinden zu Auseinandersetzungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen darüber geführt, wer nun ein »echter« Jude sei. Durch junge Israelis und Amerikaner, die nach Deutschland kamen, werde das Spektrum der Community noch vielfarbiger. Für Lagodinsky liegt die Chance für das Jüdische von morgen genau in dieser Vielfalt.

»Zukunfts-Zukunft« entstehe nicht allein aus der Fähigkeit, sich als religiöse Minderheit zu behaupten, zugleich gelte es, »den intellektuellen Reichtum in die nichtjüdische Gesellschaft zu tragen«. Der Jurist forderte, Juden sollten sich in diesem Prozess als Akteure verstehen, die die Gesellschaft mitgestalten. Die gelungene Integration junger Juden in die heutige Gesellschaft sei ein Indiz dafür, dass dies funktionieren könne. Zu einer Normalität im deutsch-jüdischen Zusammenleben werde es vor dem Hintergrund des Holocaust freilich nie kommen, so Lagodinsky, doch es gebe immerhin eine »Selbstverständlichkeit der jüdischen Präsenz«, auch wenn die durch die jüngsten antisemitischen Vorfälle infrage gestellt worden sei.

Die Angst und das Gefühl unmittelbarer Bedrohung seien zurückgekehrt. Barbara Traub, Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), verhehlte vor den zahlreichen Gästen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und den Vertretern der Religionen zum Neujahrsempfang am Montag nicht ihr Entsetzen über die Aggressionen, denen sich Juden seit dem Gaza-Krieg ausgesetzt sehen. Denn auch in Stuttgart fand eine anti-israelische Demonstration statt, und die Sorge, dass sie zu einem Angriff auf die Synagoge führen könnte, sei, so Traub, nicht unbegründet gewesen. »Aber wir haben uns nicht allein gelassen gefühlt«, versicherte sie. Das Land habe entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen.

Zukunftsfähig Bei einer öffentlichen Kundgebung zusammen mit der DIG machte die Gemeinde ihre Haltung klar: »Wir werden uns nicht verbarrikadieren, sondern selbstbewusst unsere jüdische Identität leben und uns weiter in die Gesellschaft öffnen, um im Dialog zu bleiben. Denn wir haben auch viel Solidarität erfahren«, so Traub. Der Neubau einer Kindertagesstätte, in der 70 statt wie bisher 50 Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und sechs Jahren ganztägig betreut werden, ist für die Gemeinde nicht zuletzt ein Zeichen zukunftsfähiger Vitalität. Zwar stagniere die Zahl der Mitglieder bei etwa 3000, »doch wir haben jetzt mehr junge Familien und mehr Kinder«, sagt Traub. Auch in der jüdischen Grundschule hat die Eingangsklasse erstmals eine Stärke von 15 Kindern erreicht.

70 Jahre Ende der Schoa und Wiedergründung der Gemeinde im August 1945 – das sind die beiden Jubiläen, die im kommenden Jahr gewürdigt und gefeiert werden. Zum nächsten Neujahrsfest 5776 wird erstmals die Joseph-Süß-Oppenheimer-Medaille verliehen, die gemeinsam von Gemeinde und Land Baden-Württemberg für »herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Kultur, Wissenschaft, Religion und gegen Menschenfeindlichkeit« ausgelobt wird – zur Erinnerung und Rehabilitation von Joseph Süß Oppenheimer (1698–1738), der unter Herzog Karl Alexander von Württemberg Geheimer Finanzrat war und nach dem Tod des Herrschers auf Druck der Landstände hingerichtet und Opfer eines Justizmordes wurde.

Heidi Hechtel, Rivka Kibel, Ralf Pasch, Karin Schuld-Vogelsberg

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