Frankfurt

Schock, Schmerz und Trost

Man nennt sie bisweilen »Beit Hachajim«: Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe seien »ein Ort des guten gelebten Lebens«, präzisiert der Essener Judaist Michael Brocke. Das öffentliche Interesse an jüdischen Friedhöfen steige in Deutschland erfreulich an, beobachtet er.

Ihr kultureller Wert sei für die Mehrheitsgesellschaft enorm wichtig. Denn schließlich sei der Friedhof »das sichtbarste Zeichen jüdischen Lebens«. Er erzähle die kollektive Biografie einer Gemeinde über Jahrzehnte und Jahrhunderte. In der Bewahrung jüdischer Friedhöfe sieht Brocke eine Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft.

Seine Thesen trug Michael Brocke während des zweitägigen Seminars »Der jüdische Friedhof« vor. Etwa 40 Teilnehmer waren der Einladung der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland nach Frankfurt gefolgt.

Praxis Die Pflege und Verwaltung jüdischer Friedhöfe war nur ein Thema des Seminars. Neben Anregungen für öffentliche Führungen auf Friedhöfen ging es auch um Praxisfragen zum Umgang mit Sterben und Trauer im Judentum. Zum Auftakt sprach Julian-Chaim Soussan, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Fragen der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten Gemeindemitglieder bildeten den Kern des Seminars.

Fragen Auch Brockes Vortrag zur religiösen und kulturellen Bedeutung jüdischer Friedhöfe zog einige Wortmeldungen und Fragen nach sich. Majer Szanckower, Friedhofsverwalter der Frankfurter Gemeinde, bemängelte, die Pflege alter jüdischer Friedhöfe werde zunehmend zu einem Problem. Unter anderem hätten die Kommunen immer weniger Geld.
Szanckower fragte Brocke nach gesetzlichen Grundlagen für die Pflege jüdischer Friedhöfe. Der Judaist konnte sie nur mit dem Hinweis auf eine »schwierige Situation« beantworten. Nur dauernder Druck helfe, fügte er hinzu. Weil es schwer sei, alles zu bewahren, sei die Dokumentation alter Friedhöfe wichtig.
Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung, kündigte anschließend eine Gesprächsrunde mit dem zweiten Frankfurter Gemeinderabbiner Avichai Apel mit dem Hinweis an: »Jetzt ist der Moment für die schwierigen Fragen.«

Er habe schon viele Trauerfälle und Beerdigungen erlebt, sagte Apel. Seine Gedanken zur Trauer im Judentum erläuterte er unter anderem anhand einer Geschichte. So fragte ihn jemand, ob man eine Beerdigung wegen eines Geburtstags in der Familie verschieben dürfe. Apel sieht darin einen Konflikt zwischen »Ich« und Tradition, zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen. Seine klare Antwort lautete daher: »Man sollte nicht verschieben.«

lebenserhaltung Viktoria Ladyshenski, Geschäftsführerin der Jüdischen Gemeinde Kiel und Region, schilderte den Fall eines sterbenskranken jüdischen Mannes, der im Krankenhaus lag. Nachdem die Ärzte empfahlen, die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten, wandte sich seine nichtjüdische Ehefrau an die Gemeinde mit der Bitte um Rat. »Was können wir als Gemeinde in diesem Fall tun?«, fragte Ladyshenski.

»Die Maschine darf man eigentlich nicht abschalten«, so die Antwort von Rabbiner Apel. Falls die Ärzte dem Patienten keine Chance mehr geben, könne man die lebenserhaltenden Geräte in gewissen Intervallen aus- und wieder einschalten, regte Apel an. Der Kranke könne so nach einigen Sekunden eigenständiger Atmung sterben, ohne dass der Tod direkt durch das Abschalten der Maschine ausgelöst wird. In Deutschland werde ein Rabbiner nicht immer von den Ärzten gehört, weiß Apel jedoch.

Daniel Lemberg, Friedhofsverwalter der Synagogen-Gemeinde Köln, regte ein Seminar über halachische und psychologische Aspekte der Sterbebegleitung an. Avichai Apel entgegnete, Sterbebegleitung sei Aufgabe eines Rabbiners. Sie sei schwierig, aber auch »unglaublich wichtig«.

Umbettung Der Kölner fragte zudem nach dem Umgang mit Umbettungen, beispielsweise von nichtjüdischen auf jüdische Friedhöfe. In diesem Fall sei die Umbettung eine gute Sache, sagte Apel. Sie sollte jedoch mit großer Vorsicht angegangen werden. »Nicht jede Umbettung ist erlaubt«, stellte Apel klar. Majer Szanckower warf ein, die Frankfurter Gemeinde nehme ausschließlich Umbettungen nach Israel vor. Mit Szanckowers Vortrag über praktische Aspekte der Frankfurter Friedhofsverwaltung endete der erste Seminartag.

Am darauffolgenden Vormittag fanden sich die Teilnehmer in der Totenhalle des 1928 eröffneten Neuen Jüdischen Friedhofs ein. Shlomo Raskin, Seelsorger und Vorbeter am Jüdischen Altenzentrum Frankfurt, sprach über Trauer und Trauerbegleitung im Judentum. »Schock, Schmerz und Trost« seien die drei Phasen, die ein Hinterbliebener durchlaufe, sagte Raskin. Er wies darauf hin, dass im Judentum der Trauernde bis zur Beerdigung von religiösen Pflichten, also aktiven Geboten, befreit sei.

Trauer Bei der Trauerbegleitung sei neben praktischer Hilfe vor allem das Zuhören wichtig, betonte Raskin. Man müsse den Trauernden ausreden lassen, auch Klagen zulassen. Jeder trauere unterschiedlich, weiß Raskin.

Dürfen Blumen zu einer Beerdigung mitgebracht werden, lautete eine weitere Frage der Teilnehmer. Dies sei »kein dramatischer Verstoß gegen die Halacha«, stellte Shlomo Raskin klar. »Eine gesegnete Sache« sei es, nach der Beerdigung essen zu gehen, kommentierte Raskin eine weitere Wortmeldung. Im Laufe des Seminars wurde deutlich, dass sich viele Fragen auf die kulturellen Prägungen der aus der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten Gemeindemitglieder bezogen.

Nach Fragestunden und Theorie an den beiden Seminartagen standen Führungen auf dem Neuen Jüdischen Friedhof und dem 1828 eröffneten Friedhof an der Rat-Beil-Straße auf dem Programm. Dieser sei wie ein englischer Landschaftsgarten angelegt, sagte Gabriela Schlick-Bamberger, Leiterin der Religionsschule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Einige Mitglieder der Familie Rothschild sind dort begraben, der Maler Moritz Daniel Oppenheim, ebenso die Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, der Mediziner Paul Ehrlich und mehrere Rabbiner.

Wie kaum ein anderer Ort illustriert der verschattete, baumbewachsene Friedhof an der Rat-Beil-Straße die Blüte und Bedeutung des Frankfurter Judentums vor 1933. Nicht nur diesem jüdischen Friedhof wäre mehr öffentliches Interesse zu wünschen.

www.zentralratderjuden.de/angebote/bildung

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