Dinslaken

Rothschilds Siegel

Das Siegel und sein Lackabdruck aus »Dinslacken« Foto: Peter Theißen/ Museum Voswinckelshof


Eine kleine Sensation, findet Cordula Hamelmann. »Einen Zufallsfund, wie er nicht alle Tage vorkommt«, hat die Museumspädagogin des Museums Voswinckelshof in Dinslaken kürzlich in den Sammlungsbestand aufnehmen können. Fast 83 Jahre lag das Objekt, ein münzähnliches Metallstück, in einer Haushaltsschublade. »Es gibt wenig aus der jüdischen Gemeinde, das aufgrund der NS-Verfolgung erhalten geblieben ist«, berichtet Hamelmann.

Die Geschichte des Fundstücks aus Dinslaken »ist ungewöhnlich«, sagt auch Werner Schenzer. Der Leiter der Volkshochschule Dinslaken hat die vermeintliche Münze von einer VHS-Hörerin erhalten. Die Frau habe regelmäßig stadthistorische Vorträge besucht, unter anderem die des pensionierten Pfarrers Sepp Aschenbach, einem ausgewiesenen Kenner der jüdischen Geschichte der Stadt. »Ich habe der älteren Dame auf ihren Wunsch hin aber Anonymität zugesagt.«

nachlass Die Dame habe die »Metallmünze« im Nachlass ihrer kürzlich verstorbenen Mutter beim Umräumen gefunden. Ihre Mutter habe ihr zu Lebzeiten erzählt, dass sie diese als zehnjähriges Mädchen beim Spielen im Straßenschutt gefunden und mit nach Hause genommen habe.

Die eingravierten Vertiefungen deuteten auf einen Stempel hin.

Sepp Aschenbach ist noch immer begeistert, wenn er von dem historischen Fund aus Dinslaken berichtet. Es sei ihm sehr schnell klar gewesen, dass es sich nicht um eine Münze handeln könne. Das Metallrundstück sei eindeutig ein Siegel gewesen. »Auf einer Seite befand sich ein Span zur Befestigung einer sogenannten Handhabe, wie er für einen Stempel und ein Siegel genutzt wurde«, erklärt Aschenbach, der sich seit Jahren mit dem Judentum beschäftigt und ein Buch über den jüdischen Friedhof geschrieben hat, »aber der Holzgriff fehlte.«

Und die eingravierten Vertiefungen würden eindeutig für ein Siegel der jüdischen Gemeinde sprechen. »Israelitische Gemeinde Dinslacken«, dieser Schriftzug in Versalien habe es ihm auch möglich gemacht, das Alter des Siegels zu verifizieren. »Es muss aus der Anfangszeit der Gemeinde stammen, denn bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Stadtnamen Dinslaken noch mit ›ck‹ geschrieben.«

Eigenständigkeit Eine eigenständige jüdische Gemeinde sei seit 1779 verbrieft, vorher habe Dinslaken, wie auch heute wieder, zur Synagogengemeinde Duisburg gehört. Ab 1812 hätten die Dinslakener Juden über eine eigene Synagoge an der Ecke Kloster-/Kaiserstraße verfügt. Die jüdische Gemeinde habe damals die Gebäude des ehemaligen Augustinerklosters Marienkamp käuflich erworben, in den 1880er-Jahren vergrößert und auch eine Mikwe angebaut. 1894 sei eine neue Synagoge auf demselben Grundstück gebaut worden. 1900 lebten in der Stadt rund 190 Juden. Der alte Gemeindestempel des Vorstands sei von offiziellen Schriftstücken bekannt, das jetzt gefundene Siegel bisher unbekannt gewesen.

Aufgrund seiner Nachforschungen im Stadtarchiv und historischen Unterlagen konnte Aschenbach die Herkunft und Bedeutung des Siegels weitgehend plausibel aufklären. Mit dem Anwachsen der Gemeinde und der Aufteilung der Aufgaben seien wohl zusätzliche Dienstsiegel hergestellt worden.

»Die kleineren Siegel wurden genutzt für kleinere Verwaltungsangelegenheiten wie Beglaubigungen oder Bescheinigungen. Man brauchte nicht mehr für jede Siegelung das große Gemeindesiegel, das beim Gemeindevorsteher untergebracht war«, so Aschenbach. Zur Unterscheidung der Nutzung beziehungsweise des Nutzers wurden in das Siegel sogenannte Beizeichen eingraviert. »So wusste jeder, wer gesiegelt hatte.«

DER Das jetzt aufgetauchte Siegel trägt das Beizeichen »DER«. Damit konnte Heimatforscher Aschenbach auch das Siegel zuordnen. Er ist sich sicher, dass es vom ehemaligen Leiter des jüdischen Waisenhauses, Dr. Leopold Rothschild, benutzt wurde. »Das D steht für Doktor, das E für Elias oder Elieser, denn Elieser ist einige Male als Synagogenname für Männer mit dem bürgerlichen Namen Leopold belegt. Der dritte Buchstabe R weist auf den Familiennamen Rothschild hin. Die Initialen anderer Vorstandsmitglieder passen nicht zu dem Beizeichen«, betont Aschenbach.

Leopold Rothschild war 1912 als Leiter des jüdischen Waisenhauses nach Dinslaken gekommen. Die Einrichtung existierte seit Mitte der 1880er-Jahre, um »unbemittelte israelitische Waisenkinder aus der Rheinprovinz und den angrenzenden Provinzen, (…) aufzunehmen, denselben eine den Grundsätzen des israelitischen Glaubens entsprechende Erziehung zu gewähren und in der Pflege des Geistes und des Körpers die treue, elterliche Fürsorge zu ersetzen (…).«

Rothschild sei ein Reformpädagoge gewesen, der das Waisenhaus nicht autoritär, sondern »wie eine große Familie« geführt habe, berichtet der ehemalige evangelische Pfarrer, der seit seinem Studium Hebräisch spricht.

Schiedsmann Aufgrund seines Ansehens sei Rothschild sogar als Schiedsmann in der Stadt bestellt worden. Zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum 1937 hätten ihm seine Mitarbeiter eine Reise nach Jerusalem geschenkt, die er aber erst 1938 angetreten habe. »Von der Pogromnacht im November wurde er in Jerusalem überrascht. Er ist nicht zurückgekehrt«, fand Aschenbach heraus.

Die Inneneinrichtung des Waisenhauses wurde in der Pogromnacht demoliert.


Während in der Pogromnacht Synagoge und Gemeinderäume bis auf die Grundmauern niederbrannten, wurde die Inneneinrichtung des Waisenhauses geplündert und demoliert, der Schutt im Garten aufgehäuft. Das Gebäude wurde kurz danach von der NSDAP-Kreisleitung beschlagnahmt und genutzt. Die Kinder des jüdischen Waisenhauses wurden mit einem Leiterwagen zum Spott der Bevölkerung durch den Ort gekarrt. Sie konnten später ins Ausland fliehen.

Genau in der Umgebung des Waisenhauses, weiß Aschenbach, wurde der Prägestock vor dem Krieg gefunden. Inzwischen hat Aschenbach das historische Fundstück dem Dinslakener Museum Voswinckelshof übergeben. Dort ist es katalogisiert und von einem Metallrestaurator gereinigt, konserviert und mit einem Griff versehen worden.

Künftig wird das Artefakt mit den geschichtlichen Fakten im Rahmen der historischen Ausstellung präsentiert werden, berichtet Museumspädagogin Hamelmann. Die Schau ist auch den jüdischen Bewohnern der Stadt und ihrer Verfolgung gewidmet. Mit dem Siegel können wir »den Besuchern eine Geschichte erzählen und vermitteln«.

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