Renate Aris ist darauf eingerichtet, dass sie in ihrer Chemnitzer Wohnung oft Besuch bekommt. Sie selbst trinkt nur Tee, doch für Gäste kocht sie rasch einen Kaffee – wohlgemerkt mit Handfilter. »Man muss alles im Haus haben«, sagt die umsichtige Gastgeberin, die gern – soweit vorrätig – auch selbstgebackene Plätzchen serviert.
Am 25. August wird die gebürtige Dresdnerin 90 Jahre alt. Zwischen Chemnitz und Görlitz ist sie die einzige Schoa-Überlebende und Zeitzeugin, die noch aus eigener Erfahrung von den Verbrechen der Judenverfolgung im Nationalsozialismus berichten kann.
Wenn Renate Aris ihre Termine aufzählt, entsteht der Eindruck, dass sie beinahe ständig in Sachsen und darüber hinaus unterwegs ist. Vor Schulklassen und Studenten, in Vorträgen oder bei Gesprächsrunden schildert die agile Zeitzeugin, wie es ihr während der Hitler-Diktatur ergangen ist. Die Luftangriffe der Alliierten auf Dresden bewahrten sie im Februar 1945 vor der Deportation, ebenso wie den Vater und den Bruder. Dank des couragierten Handelns ihrer Mutter gelang der Familie die Flucht.
Zu ihrem gut ein Jahr älteren Bruder hatte Renate Aris zeitlebens eine innige Beziehung. Heinz-Joachim Aris führte über viele Jahre den Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden. Jeden Freitag habe er zum Schabbat bei ihr angerufen. »Wir hatten ein besonderes Verhältnis und immer ein Ohr füreinander«, erzählt die Schwester. Es habe sie tief getroffen, als ihr Bruder 2017 nach langer Krankheit starb, auch weil damit eine wichtige Stimme verloren gegangen sei. Umso mehr fühlte sie sich verpflichtet, über das Schicksal der Familie in der Öffentlichkeit zu reden.
Mit erstaunlicher Präsenz, schlagfertig und sehr lebendig tritt Renate Aris vor großem Publikum auf. Die resolute Frau ist stets klar und eindrücklich in der Wahl ihrer Worte, die die Zuhörer sichtlich ergreifen. Dabei weist sie auch immer wieder auf Gefahren für die hart erkämpfte Demokratie hin.
»Ich hatte gar keine Zeit für Privates«, sagt Renate Aris.
Aus beruflichen Gründen kam Renate Aris 1969 nach Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz damals hieß. Als leitende Angestellte arbeitete sie dort in der Kostümabteilung zweier Theater und später beim Fernsehen. Freundschaften und gesellschaftliches Engagement seien ihr immer wichtig gewesen. Sie blieb unverheiratet und bekennt offenherzig: »Ich hatte gar keine Zeit für Privates.« Allerdings habe sie oft Kinder von Bekannten oder Kolleginnen »behütet«. »So viele hätte ich gar nicht großziehen können.«
Renate Aris ist nach wie vor sehr aktiv in der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, deren stellvertretende Vorsitzende sie von 1988 bis 2003 war. 1999 gründete sie dort den ersten jüdischen Frauenverein in den ostdeutschen Bundesländern. »Wir hatten wunderbare Veranstaltungen, doch es kommt niemand dazu«, bedauert sie. Es gibt nur noch wenige Mitstreiterinnen neben ihr. »Ich muss den Verein aus Altersgründen leider auflösen.«
Gerade steht Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas stark im Fokus, und Renate Aris ist froh, dass sie das besondere Jahr an ihrem Wohnort miterlebt. Schon zur Eröffnungsgala im Januar saß sie unter den geladenen Gästen im Opernhaus. Aufmerksam verfolgt sie nun das vielfältige Veranstaltungsprogramm.
Eine Tour entlang des Kunst- und Skulpturenwegs »Purple Path« hat sich die 90-Jährige fest vorgenommen.
Fest vorgenommen hat sie sich eine Tour entlang des Kunst- und Skulpturenweges »Purple Path«. Dieser entstand explizit für das Kulturhauptstadtjahr und schlängelt sich von Chemnitz aus durch 38 Kommunen. »Die Werke, die dafür geschaffen wurden, haben mit der Geschichte des jeweiligen Ortes zu tun«, begründet die 90-Jährige ihre Motivation. Mit Gleichgesinnten will sie zumindest einen Teil der Route erkunden, nur fehlte der viel beschäftigten Frau bislang einfach die Zeit. Nach ihrem Geburtstag sollte endlich Gelegenheit dafür sein.
Der Stolz auf Chemnitz ist Renate Aris deutlich anzumerken. Wenn sie gefragt wird, was sich Gäste in der Stadt ansehen sollten, gibt sie auch eine durchaus ungewöhnliche Empfehlung: »Fahrt mal ins Heckert-Gebiet!« Vor mehr als 50 Jahren war der Grundstein für das Vorzeige-Viertel des sozialistischen Wohnungsbaus gelegt worden. »Heute sind die Bäume dort höher als die Häuser.«
Im September wird ein Buch über das Leben von Renate Aris erscheinen. Louis Pawellek: »Das Mädchen mit dem Stern. Meine Kindheit in einer brennenden Stadt und das Überleben im Versteck«, 80 S., 10,30 Euro, Selbstverlag.