Der zweite Teil des Abends beginnt mit einer traurigen Geschichte über fröhliche Zeilen: »Das Leben wäre halb so schwer, wenn immer Fastelovend wär.« Fastelovend ist der kölsche Name für das Fest, das anderswo Karneval oder Fastnacht heißt. Geschrieben hat diesen Reim ein Jude, Alfred Heinen, der zahlreiche Lieder hinterließ, deren Titel meist nach Leichtigkeit klingen: »Trink ich am Rhein ein Gläschen Wein« oder »Ich pfeif‘ auf die Sorgen«. Wie viele Kölner Juden jener Zeit war Heinen Mitglied eines Karnevalsvereins – damals wenig ungewöhnlich.
Es ist eine kleine Weltpremiere an diesem Abend in der Nordrhein-Westfälischen Landesvertretung im Berliner Botschaftsviertel. Rund 150 Gäste sind gekommen, um noch vor dem 11. November die sogenannte fünfte Jahreszeit einzuläuten – und zugleich mehr über jüdisches Leben im Kölner Karneval zu erfahren. Die Truppe zeigt in Berlin erstmals ihr Programm »Eine jüdische Zeitreise durch den Kölschen Fastelovend«, eine zweistündige Mischung aus Musik, Spielszenen und historischen Texten über jüdische Karnevalisten.
Eigentlich hieß er Levy
Zu Alfred Heinen gehört dabei zwangsläufig auch die Erzählung seines Endes: Im Jahr 1880 geboren, mit 20 Jahren erste Bühnenauftritte, Gastspiele im Berliner Wintergarten, später Betreiber einer Kölner Kneipe – bis 1933. Da floh Heinen in die Niederlande. Zehn Jahre später wurden er und seine Frau im Vernichtungslager Sobibor ermordet, die Tochter starb in Auschwitz. Den Namen Heinen hatte er selbst gewählt; eigentlich hieß er Levy.
Im Jahr 1880 geboren, mit 20 Jahren erste Bühnenauftritte, Gastspiele im Berliner Wintergarten, später Betreiber einer Kölner Kneipe – bis 1933.
Der zweite Teil des Programms setzt mit dieser Biografie gleich einen deutlichen Akzent, doch der erste bleibt noch näher an der fröhlichen Seite des jüdischen Karnevals. Dort steht Emil Jülich im Zentrum – Kaufmann, Dichter und langjähriger Verfasser von Büttenreden. Auf vielen Fotografien trägt er den Karnevalshut, seine Auftritte machten ihn über Köln hinaus bekannt. Er starb 1923. Auf seinem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Köln steht: »Er war ein Mensch der besonderen Art, der nun der Welt entrückt, durch Geist mit heiterem Sinn gepaart, hat viele er beglückt.«
Jülich schrieb auch das Lied, das dem Abend seinen Namen gibt: »Ov krüzz oder quer« – so bekannt, dass es 2023 zum Motto des 200-jährigen Karnevalsjubiläums wurde. In dem vermeintlich unbeschwerten Lied über den Sieg des Frohsinns über das Böse lässt sich, wer Kölsch gut versteht, bereits das Erstarken nationalistischer Kräfte erahnen: »Viele Herren, die kamen (…). Sie meinten und sagten in Angst und in Not: Die Welt ist verdorben, nur wir sind noch gut.«
Dass jüdische Karnevalisten schon vor 1933 nicht frei von Anfeindungen waren, verdeutlicht ein Zeitungstext aus dem Jahr 1900, den Schauspieler Michael Klevenhaus auf der Bühne vorliest. In der »Rheinischen Volksstimme« schrieb damals ein Kommentator: »In solch fröhlicher Gesellschaft erscheinen uns dann die Juden als harmlose Menschen, sie singen mit uns, lachen, trinken und essen mit uns.« Doch diene dies vor allem dazu, »a gutes Geschäft« zu machen, so der unterschwellige Vorwurf.
Das Programm für einen einzigen Abend in Köln
Solche Zitate vorzutragen falle ihm nicht leicht, sagt Klevenhaus der »Jüdischen Allgemeinen« in der Pause. »Aber es gehört eben zur Wahrheit dazu. Wir wollen nicht nur das Fröhliche zeigen – auch wenn es das selbstverständlich gab.« Ursprünglich sei das Programm für einen einzigen Abend in Köln geschrieben worden, erzählt er, inzwischen werde es seit Jahren an unterschiedlichen Orten gezeigt, einmal sogar in einer Synagoge. »Damals packte mich nach der Vorstellung eine ältere Dame am Arm und flüsterte: ›Das haste gut gemacht‹«, erzählt Klevenhaus. »Das hat mich besonders berührt.«
Nun ist das Programm erstmals in Berlin zu erleben – und dem stehenden Applaus nach zu urteilen, ein voller Erfolg. Selbst die vielen kölschen Passagen wurden offenbar gut verstanden, wie Gäste im Anschluss berichten. Andererseits ist die NRW-Landesvertretung auch ein Ort, an dem es nicht überrascht, dass man kölsche Traditionen und Mundart kennt.
Maike Bucher arbeitet seit vielen Jahren an der Städtepartnerschaft Köln–Tel Aviv und zeigt sich an diesem Abend »wahnsinnig fasziniert«. Immer wenn sie außerhalb Kölns Lieder über ihre Heimat höre, treibe ihr das die Tränen in die Augen, sagt die 63-Jährige. »Besonders die Passage aus New York hat mich berührt.«
Der jüdische Karnevalsverein, dem er angehörte, stellte 1933 seine Treffen ein
Gemeint ist eine Szene im zweiten Programmteil, die viele im Saal bewegt: »Heidewitzka, Herr Kapitän«, ein Lied, das weit über Köln hinaus bekannt ist. »Mer kann su schön em Dunkle schunkele, wenn üvver uns de Stääne funkele« – ein Klassiker, der 1952 bei Adenauers Staatsbesuch in Chicago sogar anstelle der Nationalhymne gespielt wurde. An diesem Abend aber erklingt das Lied in einer völlig anderen, fast zerbrechlichen Version: nur von einem leise perlenden Klavier begleitet.
Die Version stammt von Hans Tobar, der 1938 mit seiner Familie nach New York fliehen konnte. Dort schrieb er diese melancholische Bearbeitung – geprägt von Emigration, Heimweh und der Erfahrung, die eigene Sprache nur noch im Exil singen zu können. Viele seiner Angehörigen wurden im Holocaust ermordet. Der jüdische Karnevalsverein, dem er angehörte, der »Kleine Kölner Klub«, stellte 1933 seine Treffen ein.
Seit 2017 gibt es einen Nachfolgeverein: die »Kölsche Kippa Köpp«.
Seit 2017 gibt es einen Nachfolgeverein: die »Kölsche Kippa Köpp«. Das Logo mit den drei Ks erinnert an den Klub von vor 100 Jahren; mit derzeit 250 Mitgliedern ist die Gruppe noch nicht wieder so groß wie damals. Vereinspräsident Aaron Knappstein sagt an diesem Abend, Spaß und gemeinsames Feiern seien immer Teil jüdischen Lebens in Deutschland gewesen – auch »in Zeiten wie diesen«. Damit spielt er indirekt auf die veränderte Stimmung seit dem 7. Oktober 2023 an und auf das Gedenken an die Pogromnacht am 9. November. Trotzdem, so Knappstein, werden Juden in diesem Land ab dem 11. November »Fastelovend« feiern.
Feiern in schwierigen Zeiten
Am Ende des Abends steht der jüdische Karnevalist Jochen Sieper an einem Stehtisch und erzählt, wie das funktionieren kann – das Feiern in schwierigen Zeiten. »Es sind vor allem die Lieder«, sagt der 69-Jährige. »Die wir zusammen singen, Juden und Nichtjuden – Hauptsache Jeck.«
Im Übrigen treffe man sich nicht nur im Karneval, sondern auch zu Stammtischen oder Gedenkveranstaltungen auf jüdischen Friedhöfen. »Und ja, da kommen manchmal auch andere Kölner Vereine dazu, einfach aus Solidarität. Das freut uns immer sehr.« Das Programm selbst hat er bereits sechs Mal gesehen. »Und ich komme gern noch ein siebtes Mal – es kommen immer wieder neue Texte hinzu.«