Spandau

Ort mit Vergangenheit

Carossastraße, Hans-Carossa-Gymnasium – der Arzt, Lyriker und Dichter Hans Carossa (1878–1956) aus Bad Tölz scheint in Spandau omnipräsent zu sein. Ein neues Wohnviertel in Spandau-Hakenfelde sollte bis vor wenigen Tagen ebenfalls nach jenem Dichter benannt werden, der den Nazis nahestand – ausgerechnet auf dem ehemaligen Siemens-Industriegebiet, in dessen Hallen etliche Zwangsarbeiter schuften mussten und ausgebeutet wurden.

Das Viertel hatte sich als Carossa-Quartier eingebürgert. Nun haben die Investoren von dieser Namensgebung Abstand genommen. Die Abrissarbeiten sind bereits in vollem Gang. Auf dem 107.000 Hektar großen Areal soll mit 1800 Wohnungen in 17 neu errichteten und vier denkmalgeschützten Gebäuden ein neues Quartier entstehen.

Etliche Gebäude sind schon Geschichte. Darunter auch eine ehemalige Zwangsarbeiterbaracke. Das »Haus 12« wurde vor zwei Jahrzehnten auf Initiative der Unteren Denkmalschutzbehörde Spandau abgetragen und sollte gesichert werden – 20 Jahre später scheint es unauffindbar zu sein.

Der Aufenthaltsort der demontierten Baracke »Haus 12« ist dem Bezirksamt nicht bekannt.

Dank einer kleinen Anfrage der Linksfraktion Spandau wurde diesem Thema zwar nachgegangen. »Verwundert sind wir aber, dass dem Bezirksamt der Aufenthaltsort der demontierten Zwangsarbeiterbaracke nicht bekannt ist – hier muss schnell Aufklärung geschaffen werden«, fordert Lars Leschewitz (Die Linke) in einer Presseerklärung.

Und wieder stellt sich die Frage: Wie kann würdevoll mit diesem Ort umgegangen und daran erinnert werden? »Es ist zu begrüßen, dass die Investoren den Namen Carossa nun doch nicht verwenden«, sagt Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit.

IRRITATION Während der Schoa zählte Carossa zu den meistgeförderten Schriftstellern Deutschlands. 1944 nahm ihn Hitler in die »Gottbegnadetenliste« mit den sechs wichtigsten deutschen Schriftstellern auf.
Berlins Antisemitismusbeauftrager Samuel Salzborn war »irritiert«, als er von dem geplanten Namen erfuhr. Gerade hat er für Berlin ein Dossier in Auftrag geben lassen, dessen Ergebnis nun vorliegt: 290 Straßen und Plätze in Berlin weisen antisemitischen Bezug auf. »Der Namensgeber des Quartiers war ein Profiteur des Naziregimes«, sagt er. Er hätte die Entscheidung nicht nachvollziehen können, wenn sie umgesetzt worden wäre.

Auch für die Mitarbeiter des Spandauer Kulturamtes ist der Dichter kein Unbekannter. »Wir wissen nicht, warum er in Spandau so oft als Straßenname oder Quartiername auftaucht«, sagt Amts- und Ausstellungsleiter Ralf Hartmann. Denn der Dichter stammt aus Bayern. Mit belasteten Straßennamen will sich das Amt demnächst beschäftigen.

Die Initiative »Hakenfelder Bürger:innen gegen das Vergessen« hatte sich an den neuen Investor, die Patrizia AG, gewandt, mit der Aufforderung, die historische Bedeutung des Ortes nicht aus den Augen zu verlieren. »Wir nehmen die Bedenken sehr ernst und daher wird der Name Carossa-Quartier nicht von uns benutzt werden«, teilt nun Barbara Popp von der Patrizia AG auf Nachfrage der Jüdischen Allgemeinen mit. Es gebe bereits einen anderen Titel, der in Kürze bekannt gemacht werden soll und der sich auf die Ortslage an der Havel bezieht.

SIEMENS 1847 wurde Siemens in Berlin gegründet – und entwickelte sich rasch zu einem internationalen Großkonzern, haben die Studierenden des Touro-Colleges in Kooperation mit dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit für ihre Ausstellung Zwangsarbeit bei Siemens in Berlin festgehalten. Erbaut wurde das Quartier in Hakenfelde während des Zweiten Weltkrieges als Luftfahrtgerätewerk für Siemens und Halske. Während der Schoa setzte Siemens an vielen Orten 80.000 bis 100.000 Zwangsarbeiter ein, darunter Juden, Kriegsgefangene, Strafgefangene und KZ-Häftlinge.

»Die NS-Zwangsarbeit bei Siemens ist bis heute nicht umfassend aufgearbeitet.«

Christine Glauning

1000 Zwangsarbeiter des Außenlagers Sachsenhausen mussten hier kriegswichtige Geräte wie Leit- und Steuerungstechnik für Flugzeuge produzieren: modernste Technik für den Vernichtungskrieg der Nazis. »Sie müssen unter menschenverachtenden Bedingungen für die Kriegsproduktion arbeiten«, heißt es in der Ausstellung, die auch online einzusehen ist. Dies ermöglichte Siemens auch eine Expansion in die besetzten Gebiete: Beispielsweise entstand 1943 ein Werk in Bobrek, einem Außenlager von Auschwitz.

»Wie alle deutschen Unternehmen übernimmt Siemens nach 1945 jahrzehntelang keine Verantwortung für die Zwangsarbeit«, heißt es weiter. Erst 1962 stellt der Konzern sieben Millionen D-Mark für überlebende jüdische KZ-Häftlinge zur Verfügung. Viele Jahre später, 1998, gründet Siemens einen firmeneigenen »Humanitären Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter« und beteiligt sich seit 2000 an der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«.

DIALOG »Die Geschichte der NS-Zwangsarbeit bei Siemens ist bis heute nicht umfassend aufgearbeitet«, sagt Christine Glauning. Während der Schoa gab es 3000 Unterkunftslager für Zwangsarbeiter. Zum großen Teil handelte es sich um simple Holzbaracken, des Weiteren wurden Gasthäuser, Kinosäle und Privatwohnungen als Sammelunterkünfte genutzt. Das Siemens-Archiv sei vor Jahrzehnten von Berlin nach München gezogen, aber der Konzern habe bisher keinen Auftrag für eine Aufarbeitung gegeben, sagt Glauning.

Wie könnte ein Gedenken aussehen? »Wir begrüßen vorbehaltlos jegliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Wir kennen die Geschichte des Carossa-Quartiers in Berlin, und es ist uns wichtig, dieses Thema verantwortungsvoll und mit der gebotenen Sensibilität zu behandeln. Wir stehen deshalb im Dialog mit allen relevanten Beteiligten und prüfen Optionen, wie wir mit der Historie des Quartiers angemessen umgehen können«, teilt Barbara Popp mit.

Glauning würde es begrüßen, wenn es neben einer Gedenktafel auch eine kleine Ausstellung dazu geben würde und etwa die Spandauer Jugendgeschichtswerkstatt mit einbezogen würde. »So könnte man mehr über die Geschichte des Quartiers erzählen und deutlich machen, dass dazu auch die Zwangsarbeit gehört.«

GEDENKKONZEPT Die Mitarbeiter der Patrizia AG haben sich bereits Gedanken gemacht: »Wir wollen ein Gedenkkonzept formulieren und sind gerade dabei, eine entsprechende Struktur zu erarbeiten und für diese erste Ansprechpartner zu kontaktieren, die gemeinsam mit uns Vorschläge für ein angemessenes Gedenken ausarbeiten.«

Den Menschen, die an diesem Ort gelitten haben, solle ein würdevolles Gedenken bereitet werden, das auf mehreren Säulen stehen könne. Vorstellbar seien Gedenktafeln, Führungen und Veranstaltungen zur Aufarbeitung. »Wir stehen allerdings intern erst am Anfang des Prozesses, wollen diesen aber mit Engagement vorantreiben.«

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