Dorsten

Online statt Verschweigen

Das weiße Giebelhaus (M.) beherbergte Synagoge und Gemeindezentrum (um 1925). Foto: dorsten-unterm-hakenkreuz.de

Wie wichtig ihre Arbeit auch nach Jahrzehnten noch sein würde, konnten die Mitglieder der Forschungsgruppe, die in den 80er-Jahren die Buchreihe Dorsten unterm Hakenkreuz herausbrachte, vermutlich nicht ahnen. Die Bände, die damals als beispielhafte Aufarbeitung und Dokumentation von Lokalgeschichte der Nazizeit galten, sind mittlerweile längst vergriffen und nur noch in Antiquariaten oder Bibliotheken erhältlich.

Initiiert von zwei Dorstenern, dem Journalisten Wolf Stegemann und dem Industriekaufmann Dirk Hartwich, hatte sich die Gruppe nicht nur um eine detaillierte Darstellung der Nazizeit in ihrer Stadt gekümmert, sondern auch aufgezeigt, wie bereits in den Jahren vor 1933 die Weichen für den Massenmord gestellt wurden.

Selbstverständlich sind die Bücher auch für den Geschichtsunterricht an Schulen interessant. Stegemann entschloss sich daher, die zum Teil aktualisierten Buchtexte auf einer Internetseite zu veröffentlichen. Dort kann nun jeder frei auf die gesammelten Informationen zugreifen. 20 Autoren haben an dem Projekt mitgewirkt, darunter auch höchst prominente Namen wie der Historiker Hans Mommsen und Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung.

Stegemann, der 1987 die Idee für das fünf Jahre später in Dorsten eröffnete Jüdische Museum Westfalen entwickelte, belässt es jedoch nicht bei der Dokumentation des bisher Erreichten: Neues wird umgehend hinzugefügt, und manchmal kommt ihm dabei der Zufall zu Hilfe.

Aussergewöhnlich Zu den außergewöhnlichen auf der Seite dokumentierten historischen Quellen gehören beispielsweise zwei Schulbücher aus der Nazizeit. Ein junger Mann hatte seiner Oma von der Internet-Dokumentation erzählt – und plötzlich erinnerte sie sich an die alten Bilderbücher aus ihrer Kindheit, die immer noch auf dem Dachboden lagen.

Die Suche des Enkelsohns förderte jedoch nicht nur harmlose Unterhaltungs- und Lernlektüre zutage, sondern auch zwei antisemitische Hetzbücher, die für Volksschüler gedacht waren. Der Giftpilz und Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid! waren vom Stürmer-Verlag herausgeben worden, die verkaufte Auflage lag bei mehr als 100.000 Exemplaren.

Die alte Dame war fassungslos, als ihr klar wurde, welcher perfiden Propaganda sie ausgesetzt gewesen war, schreibt Stegemann. Und zeigt anhand der Schulbücher nicht nur, wie Erziehung im Naziregime funktionierte, sondern berichtet auch über die Autoren der Hassschriften.

Namen von Nazis zu nennen, hatte sich schon die Forschungsgruppe getraut, man habe »das Schweigen und Verschweigen damaliger Zeitgenossen« überwinden wollen, schreibt der Journalist.

Anfeindungen Mit welchen Schwierigkeiten die Forschungsgruppe dabei auch 40 Jahre nach dem Ende des »Dritten Reiches« zu kämpfen hatte, zeigt ein Bericht aus dem »Mitteilungsblatt Westfälischer Heimatbund« aus den 80er-Jahren, in dem es heißt: »Wer schon einmal versucht hat, die jüngste Geschichte einer Kleinstadt aufzuarbeiten, weiß, auf welche Wand des Wegschweigens man gemeinhin stößt.«

Allen Anfeindungen zum Trotz arbeiteten die Autoren, zu denen unter anderem Dorstener Studienräte, Rechtspfleger, Publizisten, Juristen und ein Pfarrer gehörten, die Geschichte ihrer Heimatstadt auf.

Manches von dem, was seine Gruppe herausfand, hätte man in Dorsten vermutlich lieber vergessen. Wie die Geschichte des jüdischen Kaufmanns Siegmund Reifeisen, der 1922 aus Galizien zugezogen war: Eine von ihm geschaltete Zeitungsanzeige aus dem Jahr 1924 zeigt, dass Antisemitismus nicht jedem Einwohner der Stadt erst durch die Nazis verordnet werden musste. »Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten!« steht im Inserat. »Das ist und bleibt trotz aller Anfeindungen unsere Parole!«

Warnungen Reifeisens Kaufhaus war mehrmals Ziel von Angriffen geworden. 1938 wurde er nach Polen abgeschoben, zuvor hatte man ihn zur Gaudi des Pöbels in einer Schubkarre durch die Straßen gefahren. Reifeisen und seine Frau Gertrud wurden später vermutlich in Konzentrationslagern umgebracht, ihrer Tochter Ilse war dagegen die Flucht nach Schweden gelungen, wo sie noch heute lebt.

Auch die Familie Rosenbaum überlebte. Ernst und Max, Söhne des 1933 verstorbenen Viehhändlers Moses, sowie ihre Mutter Frieda erinnerten sich später, dass es oft Warnungen von Bauern gab, die sich trotz Bedrohung durch die Nazis nicht davon abhalten ließen, weiter bei ihnen einzukaufen. Man möge doch wegziehen, »das ist doch kein Leben für euch«, habe es geheißen – illegal siedelte man schließlich in die Niederlande über. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht mussten die Rosenbaums sich mit Hilfe von Untergrundkämpfern bis zur Befreiung verstecken.

Stegemann interviewte die Familie später. Ein Bild neben seinem Artikel zeigt, wie notwendig seine Aufklärungsarbeit auch weiterhin ist: Der Grabstein von Moses Rosenbaums Vater auf dem Dorstener jüdischen Friedhof wurde 2007 mit einem Hakenkreuz beschmiert.

Info: www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de.

Die Original-Bücher der Reihe »Dorsten unterm Hakenkreuz« können unter www.wolf-stegemann.de/dorsten/dorsten_unterm_hakenkreuz gelesen werden.

Jom Haschoa

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