Chasanut

Musik ist seine Muttersprache

In seinem Wohnzimmer hat Assaf Levitin auch ein umfangreiches Musik-Archiv angesammelt. Foto: Stephan Pramme

Kurz vor dem Einschlafen fallen ihm meistens die schönsten Melodien ein. »Wenn ich gescheit bin, dann schreibe ich sie sofort auf«, sagt Assaf Levitin, Kantor und Komponist, mit einem Lächeln. In dem Moment würde er zwar durchaus denken, dass er sie nie wieder vergessen werde, doch die Realität sehe anders aus, und am nächsten Morgen sei die Melodie entschwunden. Steht sie auf dem Notenpapier, dann kann er sich später hinsetzen und den Bass hinzukomponieren. Beispiele seines Schaffens können auf allen gängigen Online-Portalen gestreamt werden.

Nun hat er ein neues Album mit seinen Werken herausgebracht: Mizmor Le Assaf – New Music for the Synagogue, Made in Germany (Assafs Psalm). Das Besondere: Levitin hat sie bewusst für Gottesdienste komponiert. »Kein jüdischer Kantor in Deutschland hat nach der Schoa für die Liturgie geschrieben«, sagt er. Obwohl es vor der Nazi-Herrschaft zum Arbeitsleben und zur Berufung eines Kantors gehörte, regelmäßig zu komponieren. »Viele haben so eine eigene Tradition entwickelt.«

Beispielsweise Samuel Lampel (1884–1942), der in Leipzig wirkte, oder Emanuel Kirschner (1857–1938), der in München amtierte, und Israel Meyer Japhet (1818– 1892) aus Frankfurt. Jeder verfügte über einen individuellen Stil. Und so erhielt die jeweilige Liturgie ihren eigenen Charakter.

MUSIK-IMPORTE Die Musik für die Gottesdienste werde derzeit viel aus den USA und aus Israel importiert, sagt Levitin. »Ich denke, es ist Zeit, nun wieder eigene zu schaffen.« Sieben Stücke hat er eingespielt, darunter drei für Kabbalat Schabbat, weitere für die Hohen Feiertage und natürlich das Ma Tovu. »Das geht immer.«

Auch den Psalm 150 hat er vertont, der bei jedem Gottesdienst erklingen kann. »Mein Angebot ist sehr konkret«, sagt Levitin. Die Noten könne er ebenfalls zur Verfügung stellen.

Mit dem »Lecha Dodi« verbindet Levitin einen Teil seiner Familiengeschichte.

Alle Stücke sind sehr melodisch. Einige können auch a cappella interpretiert, andere mit Gitarre, Blockflöte, Klarinette oder Gitarre begleitet werden. »Das kann die Gemeinde aber variabel halten.« Die Melodien würden aus den Texten heraus entstehen, sagt der 49-Jährige, der bis vor Kurzem in der liberalen Gemeinde in Hannover amtierte.

Hier hat er in den vergangenen Jahren bereits Synagogalmusik geschrieben, die auch in der Liturgie ihren Platz fand. Zudem vertonte die Beterin und Pianistin Stella Perevalova einen Psalm, der nun ebenfalls regelmäßig im Gottesdienst gesungen wird.

BERUFUNG Ein Sänger sei er seit seiner Geburt, sagt der gebürtige Israeli und jetzige Berliner. Er habe in keinem Moment seines Lebens an eine andere Berufung gedacht. Nach einem Gesangsstudium an der Musikhochschule Tel Aviv studierte er in Saarbrücken bei Yaron Windmüller. Anschließend war der Bassbariton zwei Jahre Mitglied des Internationalen Opernstudios am Opernhaus Zürich, später Mitglied des Opernensembles Dortmund.

Schließlich beschloss er, eine Kantoren- Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zu absolvieren. Da bekam er unter anderem Hausaufgaben auf, Stücke zu komponieren, die in der Liturgie erklingen können. Dazu gehörte, Gottesdienste vorzubereiten. Dabei sei in ihm der Entschluss gereift, etwas Neues zu schaffen.

Als Levitin nach einem Antrag bei »Neustart Kultur« der Interessenvertretung von ausübenden Musikkünstlern (GVL) Zuschüsse bewilligt bekam, konnte er seine Werke endlich aufnehmen – obwohl das Geld nicht ausreichte und er noch in die eigene Tasche greifen musste. Mit Naaman Wagner (Piano), Dana Marbach (Vokalbegleitung), Hemi Levison (Blockflöte) und David Hason (Gitarre, Schlagzeug und musikalische Leitung) holte er sich Freunde dazu, mit denen er auch sonst oft musiziert.

braut schabbat Ein Werk ist ihm besonders wichtig: »Lecha Dodi«, ein eigentlich fröhliches Lied zum Empfang der Braut Schabbat. Denn damit verbindet er einen Teil seiner Familiengeschichte, von der er erst jüngst erfuhr. Sein Urgroßvater, Josef Zebrak, hatte als Kantor in der Kriegshaber Synagoge in Augsburg amtiert. »Dass mein Opa aus der Stadt kam, wusste ich schon, aber dass sein Vater, also mein Urgroßvater, Kantor war, kam jetzt erst raus.«

»Ich arbeite für die Gegenwart und die Zukunft.«

Assaf Levitin

Claudia Huber von der Augsburger Erinnerungswerkstatt hatte über seine Familie geforscht. Sein Urgroßvater kam im Ersten Weltkrieg von Polen als Kriegsgefangener in Augsburg unter. Später lebte er mit seiner Familie in der Dienstwohnung in der Synagoge und unterrichtete, auch nichtjüdische Kinder. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde er bald festgenommen, erst in die sogenannte Schutzhaft im Gestapo-Gefängnis, später wurde er nach Buchenwald deportiert.

URGROSSVATER Dort traf er einen seiner früheren Schüler wieder, der nun als Wächter für den Block zuständig war. Dieser ließ zu, dass die Häftlinge in einer Ecke des Schlafsaals Kabbalat Schabbat feiern konnten. So soll es ein paar Monate gegangen sein, bis ein Hinweis kam, dass alle im Steinbruch erschossen werden sollten. Besonders makaber: Erst wenn ein Häftling sich auf fünf Meter dem Posten näherte, durfte er erschossen werden. Sein Urgroßvater wehrte sich und ließ sich nicht über die Markierung schubsen, obwohl er hingeprügelt werden sollte. »Fast jeder Knochen war gebrochen, die Zähne ausgeschlagen und der Kehlkopf verletzt«, erfuhr Assaf. So ist es in Yad Vashem dokumentiert.

Dennoch wollten die Gefangenen den Schabbat empfangen. Es sei immer die Aufgabe des Kantors gewesen, das Lecha Dodi zu intonieren – doch er war so stark verletzt, dass er nicht mehr sprechen konnte. Die anderen warteten, denn keiner traute sich. »Bis er mit tonloser Stimme, aber mit einem wunderbaren Nigen (Melodie) anfing. Es war sein Schwanengesang«, heißt es im Archiv von Yad Va-shem. Am nächsten Tag wurde er abtransportiert und in der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale ermordet. »Das habe ich eine Woche, nachdem ich mein Lecha Dodi komponiert hatte, erfahren«, sagt Levitin. »Dieses Wissen hat mich verändert.«

Er wünscht sich, dass auch Werke unbekannterer Komponisten erklingen.

Musik sei seine Identität, seine Muttersprache. Und er versuche eben, alles in seiner Sprache auszudrücken. »Ich arbeite für die Gegenwart und die Zukunft.« Auch die Noten prägen sein Leben, denn er verfügt mittlerweile über ein umfangreiches Archiv in seiner Wohnung. Öfters gehen Nachlässe an ihn. »Die jüdische Musik hat so viel zu bieten, und ich würde mir wünschen, dass auch Werke von eher unbekannteren Komponisten erklingen.« Regelmäßig bekommt Levitin Anfragen, ob er Chören Notenmaterial zur Verfügung stellen könnte – was er gerne tut.

TRIO Vor acht Jahren gründete er das Trio »Die Drei Kantoren«, mit dem er im vergangenen Jahr das dritte Album veröffentlichte. Ferner leitet er den Shalom Chor Berlin und das KOLOT Vokalquintett, die sich der jüdischen Liturgie widmen. Auch als Solist und Spezialist für jüdische Musik tritt er mit dem RIAS Kammerchor, dem Deutschen Kammerchor und dem Synagogalchor Leipzig auf.

Seine Musik solle ein Zeichen für die Erneuerung des jüdischen Lebens in Deutschland sein und ein Plädoyer für ein neues, verstärktes Bewusstsein des Judentums. Das Album »soll ein Weckruf sein, neue Akzente zu setzen«. In der Hoffnung, dass noch mehr Musiker kurz vorm Einschlafen Melodien für den Gottesdienst aufschreiben – weil es ihnen wichtig ist.

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