Porträt der Woche

»Musik ist mein Motor«

Liv Migdal ist Geigerin und sorgt sich um die Stellung der Kultur in der Gesellschaft

 14.06.2020 14:38 Uhr

»Kunst ist ein seelisches Lebensmittel, kein Luxusgut«: Liv Migdal (31) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Liv Migdal ist Geigerin und sorgt sich um die Stellung der Kultur in der Gesellschaft

 14.06.2020 14:38 Uhr

Ich mache mir seit Ausbruch der Corona-Krise viele Gedanken. Dabei bin ich weniger um meine Gesundheit besorgt. Ich bin von Natur aus ein optimistischer Mensch, der hofft, dass wir das Virus in den Griff bekommen.

Was mich zunehmend frustriert, ist die Art und Weise, wie in der Öffentlichkeit über Kultur und uns Kulturschaffende und -bewahrer gesprochen beziehungsweise nicht gesprochen wird.

Der Kulturbereich war der erste, der von der Politik dichtgemacht wurde. Seit März sind alle meine Auftritte abgesagt. Bis mindestens einschließlich Juli kann ich keine öffentlichen Konzerte mehr geben. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um das zu begreifen.

Für einen langen Zeitraum – und wir wissen nicht, wie lang er tatsächlich sein wird – werde ich nicht mehr die Möglichkeit haben, auf der Bühne zu stehen und im direkten Austausch mit dem Publikum zu sein. Das vermisse ich sehr. Ich bin mir sicher: Ein Live-Erlebnis ist nicht durch Streaming und Online-Performances zu ersetzen.

Als mein Vater starb, spielte ich gerade ein Album ein – nur so kam ich mit dem Schmerz klar.

Doch ich nutze jetzt diesen Moment der Auszeit, um mein Repertoire zu erweitern und Werke zu lernen, die mich inspirieren und die ich schon immer unbedingt studieren wollte, wozu ich jedoch bisher keine Zeit gefunden habe. Ich höre viele CDs und alte Einspielungen, LPs aus dem vorigen Jahrhundert, dabei entdecke ich fantastische Aufnahmen. Musik ist, wie auch zuvor, mein Motor im Leben.

Aber vergessen wir nicht: Wir befinden uns auf einer dramatischen Gratwanderung, und die materielle Lebensgrundlage, die Existenz, steht für viele von uns Künstlern auf dem Spiel.

FUSSNOTE In den Diskussionen darüber, was »systemrelevant« ist in unserer Gesellschaft, geht die Kultur meines Erachtens immer mehr unter, wird zur Fußnote. Und so besteht die Gefahr, dass wir, ehe wir uns versehen, ganz schnell auf eine Stufe zurückfallen, auf der der Standpunkt gilt: Kultur, also Musik, Theater, die Bildenden Künste, sind Luxusgüter, schöne Accessoires unserer Gesellschaft.

Doch Kunst ist wesentlich für uns Menschen. Sie ist ein seelisches Lebensmittel, notwendig für uns alle in unserer Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass dies ein allgemeiner Konsens wird. Die Künstler sind wichtig für unser Überleben. Dafür gibt es nicht zuletzt eindrucksvolle Zeugnisse von Menschen, die existenzielle Grenzerfahrungen durchleben mussten, zum Beispiel während des Holocaust.

Meine Mutter Ulrike beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Musik und Literatur in den Konzentrationslagern des NS-Regimes. Das aufzuarbeiten, ist eine nie endende Lebensaufgabe. Für ihr Buch Wann wohl das Leid ein Ende hat über die deutsch-tschechische Kinderbuchautorin Ilse Weber ist sie unter anderem mehrfach ausgezeichnet worden.

Mich beeindruckt ihre Arbeit als Autorin und Schriftstellerin. Sowieso verdanke ich ihr und meinem Vater Marian eine sehr glückliche Kindheit. Mit ihrer Art und ihrer Fantasie, das Leben zu gestalten, und in ihrer Liebe zueinander haben mich meine Eltern auf vielen Ebenen beeinflusst.

IMPULSE Als Musikerin bin ich stark durch meinen Vater geprägt, durch die Impulse, die er mir gab, und durch sein Dasein, seine Wärme. Er war der generöseste Mensch, den ich mir vorstellen kann – sein Wesen strahlte auf alle ab, die ihm begegneten. Er war ein wunderbarer Pia­nist. Sein Verständnis von Musik hat er nicht nur mir weitergegeben – er war auch Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Warum spreche ich immer in der Vergangenheit von ihm? Weil er leider gestorben ist, 2015 war das.

Sein Tod hat mich stark erschüttert. Damals stand ich kurz davor, mein Album mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin einzuspielen. Er war bei der Planung dabei, wir haben damals viel darüber philosophiert. Nach seinem Tod stand ich kurz davor, alles abzusagen. Dann habe ich mich an dem Gedanken festgehalten, wie es ihn gefreut hätte, die Aufnahmen zu hören.

Meinen Eltern verdanke ich eine sehr glückliche Kindheit.

Ich habe gewissermaßen in einem Schockzustand Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten und Astor Piazzollas Las cuatro estaciones portenas eingespielt. So habe ich den Schmerz, den ich bis heute nicht in Worte fassen kann, überlebt. Für mich gibt es ein Leben vor und ein Leben nach seinem Tod.

KÜKEN Aufgewachsen bin ich in Bochum, mein Vater war ein polnischer Jude, meine Mutter ist Deutsche. Mit elf Jahren wurde ich Jungstudentin an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Aber das heißt nicht, dass ich täglich in Rostock zu sein hatte. Meine Professorin Christiane Hutcap unterrichtete mich einmal in der Woche in Köln. Die Oster- und Herbstferien verbrachte ich dann für Konzerte und Hochschulveranstaltungen im Norden.

Das war eine sehr spannende und schöne Zeit. Ich war unter meinen Kommilitonen das junge Küken. Aber das Alter spielte keine Rolle, es gab auch keine Konkurrenz unter uns. Wir waren Gleichgesinnte.

Im Anschluss an mein Diplom setzte ich meine künstlerische Ausbildung am Salzburger Mozarteum fort. Es war mir wichtig, Neues dazuzulernen. Einer meiner Schwerpunkte lag auf der Alten Musik und der historischen Aufführungspraxis. Wie sind die Dinge entstanden? Diese Frage hat mich sehr interessiert.

Ich stelle mir Musikgeschichte als einen Baum vor – wenn ich mich zum Beispiel nur mit der Epoche der Romantik beschäftige, kenne ich lediglich einen bedeutenden Ast. Ich muss aber zur Wurzel kommen.

Nach meinem Masterabschluss war ich bereit für einen Tapetenwechsel, Tel Aviv und Berlin standen zur Auswahl.

Nach meinem Masterabschluss war ich bereit für einen Tapetenwechsel. Tel Aviv, wo meine Schwester heute lebt, und Berlin standen zur Auswahl. Aus pragmatischen Gründen habe ich mich dann für Letzteres entschieden, denn ich spiele die meisten Konzerte in Europa. Also bin ich vor vier Jahren an die Spree gezogen.

Vor Corona hätten Sie mich durchaus, wenn ich nicht selbst auf Konzertreise gewesen wäre, einmal in der Woche in der Berliner Philharmonie antreffen können – als Zuhörerin. Ich liebe diesen Ort. Die Einheit des Orchesters, die gemeinsame Energie begeistern mich immer wieder aufs Neue.

ALBEN Es gibt diese klassische Frage, die mir als Musikerin schon so oft gestellt wurde: »Warum sind Sie eigentlich Geigerin geworden?« Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Ich habe zwar im Alter von drei Jahren angefangen, Geige zu spielen. Meine Begeisterung dafür lässt sich damit allerdings nicht erklären.

Die Frage lässt sich schlussendlich nicht rational beantworten, denn ein Kind sagt sich nicht: »Ah, jetzt habe ich mein Instrument gefunden.« So ein Prozess verläuft instinktiv, und es war wohl so: Als ich die Geige zum ersten Mal gehört habe, hat mich da etwas sehr tief berührt, war die Liebe dazu da – und sie ist bis heute geblieben. Ich bin nun 31 Jahre alt.

Seit meiner Kindheit und verstärkt seit meiner Studienzeit trete ich auf den Konzertbühnen weltweit auf. In den vergangenen Jahren war ich viel unterwegs – in Europa, Israel, China und Australien. Außerdem habe ich eine Reihe von CD-Alben eingespielt. Zuletzt ist meine Solo-CD Refuge mit Werken von J. S. Bach, Béla Bartók und dem israelischen Komponisten Paul Ben-Haim erschienen.

HERZENSPROJEKT Ich freue mich unheimlich auf den Moment, als Geigerin wieder auf der Bühne stehen zu können und meiner Aufgabe als Musikvermittlerin nachzukommen, mit einem Publikum durch die Musik zu kommunizieren. Es geht mir nicht darum, im Mittelpunkt zu stehen.

Ich mache das Geschriebene hörbar, dafür studiere ich im Vorfeld immer das Autograf, wenn es denn eines gibt. Das ist die eigenhändige Niederschrift des Komponisten. Der Handschrift kann ich vieles entnehmen. Ein wunderbarer Musiker sagte einmal diesen treffenden Satz: »Das Publikum kann nur das hören, was du selbst weißt.«

Es geht mir nicht darum, im Mittelpunkt zu stehen – ich will mit dem Publikum durch Musik kommunizieren.

Ich möchte auch wieder die Musik jener Komponisten aufführen können, die zur Nazizeit verfemt waren. Das ist eines meiner Herzensprojekte, für das ich viel recherchiert habe. Im vergangenen Jahr war ich damit in verschiedenen jüdischen Gemeinden zu Gast. Mein Wunsch ist es, diese Meisterwerke einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Auch kann ich es kaum erwarten, wieder zu reisen: Es stehen eine Reihe interessanter Konzerttourneen, zum Beispiel nach Dänemark, ins Baltikum und erneut nach Australien, an. Und ich vermisse auch Israel. 2008 war ich als Studentin zum ersten Mal dort: eine Musikreise. Seitdem bin ich inspiriert von Land und Leuten. Vor ein paar Jahren habe ich zudem angefangen, Hebräisch zu lernen.

Jetzt heißt es aber erst einmal: durchhalten und den Optimismus nicht verlieren.

Aufgezeichnet von Maria Ugoljew

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