Chemnitz

Mit vereinten Kräften

Chemnitz ist die heimliche Hauptstadt der Juden in Deutschland, findet Daniel Adler. »Wenn Chemnitz will, dann kann es auch«, sagt der 20-Jährige, der gerade beim Umzug der Jüdischen Gemeinde in ihre Übergangsdomizile hilft. »Ehrenamtliches Engagement ist ein Teil meiner Persönlichkeit«, sagt er. Das Gemeindehaus muss für mehrere Jahre geschlossen werden, damit es saniert werden kann.

Sechs Stunden plant Daniel Adler für den Umzug heute ein. Der Umbau allerdings, der wird etwas länger dauern. »Uns stehen größere Maßnahmen bevor, denn die Sicherheitsvorkehrungen müssen nach dem Attentat von Halle erneuert werden«, meint die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Ruth Röcher. »Von etwa 2000 Quadratmetern müssen wir uns nun auf 380 verkleinern.«

MUSKELN Als ehemalige Religionslehrerin hat sie die Kinder und Jugendlichen bis zu ihren Schulabschlüssen begleitet. Und wenn heute Not am Mann und an der Frau ist, ruft sie ihre ehemaligen Schüler an. Einer von ihnen ist Daniel. »Ich schaue dann immer, wer gerade Zeit hat«, sagt er. Seine Freunde und er setzen ihre Muskeln ein, planen und kümmern sich um die Logistik. In den vergangenen Tagen haben sie Materialien gesichtet, sortiert und in Kisten gepackt.

In den vergangenen Tagen haben sie Materialien gesichtet, sortiert und in Kisten gepackt.

Das Schwierige an diesem Umzug sei, dass aus einem Haus Kartons und Möbel an drei verschiedene Standorte gebracht werden müssen, sagt Daniel. In einem Lager werden Sachen untergebracht, die demnächst nicht gebraucht werden. Dann ist ein Standort angemietet, an dem die Materialien aufbewahrt werden, die in den nächsten Monaten gebraucht werden, wie Utensilien zu Rosch Haschana und anderen Feiertagen.

Außerdem muss die ganze Verwaltung in das neue Domizil in das Stadtzentrum ziehen. Dort werden demnächst die Mitarbeiter, Ehrenamtliche und Ruth Röcher ihre Schreibtische aufbauen. Auch die Vereine ziehen mit. »Alles ist nun etwas kleiner, leider werden wir über keine richtige Synagoge verfügen, haben aber glücklicherweise einen Gebetsraum«, sagt Daniel.

kindergarten Als er geboren wurde, lag die Einweihung der neu gebauten Synagoge gerade einmal ein Jahr zurück. Auch der Kindergarten muss bis 2024 umziehen. Dabei gehe es nicht nur darum, geeignete Räume für die Kinder zu finden, sondern auch einen Platz für die koschere Küche der Kita.

Als Daniel geboren wurde, lag die Eröffnung der neuen Synagoge ein Jahr zurück.

»Es sind nicht alle Juden, die uns bei der Aktion unter die Arme greifen«, sagt Daniel Adler. Beispielsweise ist sein bester Freund Hedi Bouattour mit dabei. Hedi ist Muslim. Als Daniel ihn gefragt hat, sagte sein Freund, ohne mit der Wimper zu zucken, zu. »Ich sehe da keine Grenzen und würde ihm und seiner Gemeinde auch helfen, wenn dort ein Umzug anstehen würde.«

Die beiden sind sich zum ersten Mal auf einem Spielplatz begegnet, als sie beide noch im Kinderwagen saßen. Hedi warf seinen Schnuller weg, den Daniels Mutter aufhob und ihm zurückgab. »So hat es meine Mutter mir erzählt.« Später besuchten sie dieselben Schulen. Mit 14 oder 15 Jahren freundeten sie sich an. »Wieso sollte ich nicht helfen? Daniel hat mich gefragt, und ich habe direkt zugestimmt. Unsere Freundschaft begann in einem Alter, in dem religiöse Zugehörigkeit keine Rolle spielte. Wir zeichnen uns durch Transparenz aus«, so der 19-Jährige.

religionen »Daniel und ich reden gern über unsere Religionen, freuen uns über Gemeinsamkeiten und debattieren Unterschiede. Er konnte einiges über den Islam und ich einiges über das Judentum lernen. Eine Synagoge respektiere ich als Gotteshaus wie eine Moschee, und wenn Hilfe benötigt wird, zeige ich mein soziales Engagement. Schließlich sind wir alle Abrahams Kinder.«

»Ich schätze an ihm, dass er immer ehrlich ist und die Wahrheit sagt«, so Daniel. Zu seiner Barmizwa hatte er ihn auch eingeladen. Hedi kennt die Synagoge gut, denn er war häufiger da. Bei Daniels Barmizwa hatte er sich später zurückgezogen, um sich seinem eigenen Gebet zu widmen. »Muslime dürfen in der Synagoge beten, wenn keine Möglichkeit besteht, in die Moschee zu gehen«, so Daniel. Was der 20-Jährige immer an anderen Orten gehört hat, war der Spruch: »Ach, in Chemnitz gibt es doch überhaupt keine Juden.« Daniels Barmizwa war der Gegenbeweis: 300 Gäste kamen, um mitzufeiern. Und das wurde auch die Wiederbelebungsstunde des Jugendzentrums.

Jahrelang waren die Freunde Daniel und Michael Khurgin im Chemnitzer Jugendzentrum aktiv, in dem sie sich engagierten. Seitdem heißt es »Yahalom«. »Da haben wir regelmäßig Programme angeboten, zu denen bis zu 20 Kids kamen.« Doch nach dem Abitur hatten Michael und Daniel Pläne außerhalb von Chemnitz: Michael lebt derzeit in Jerusalem. Daniel erfüllte sich einen Traum und leistete zwei Jahre lang seinen Militärdienst in Israel ab.

leichtsinn Daniels Eltern dachten sich erst noch nichts dabei, als er als Jugendlicher diesen Wunsch äußerte. Sie taten es als jugendlichen Leichtsinn ab. Dem war jedoch nicht so: »Ich hatte mein Abitur in der Hand, legte es meiner Mutter auf den Tisch und sagte zu ihr, dass ich nun nach Israel fahren werde. Sie wusste, was das bedeutete«, sagt Daniel.

Daniel und Hedi wollen zusammen einen Podcast machen.

»Es ist ganz selbstverständlich, dass wir als israelische Soldaten für den Schutz aller Menschen hier verantwortlich sind – das gilt für Israelis, für Touristen und Pilger, aber natürlich auch für Palästinenser. Mit den meisten von ihnen komme ich sehr gut aus, die arabischen Kindern erhalten auch immer Süßigkeiten von mir.« Schwarz-Weiß-Denken sei bei ihm fehl am Platz.

Daniels Eltern sind zwar Deutsche, die in Chemnitz wohnen, sie sind jedoch ursprünglich Juden mit ukrainischen Wurzeln. Darüber hinaus hat er auch Verwandte in Israel, sie leben heute bei Nes Ziona südöstlich von Tel Aviv. »Diese Zeit hat mich natürlich geprägt.«

Nun nutzt er die Zeit bis zum Studienbeginn, um ein Online-Business aufzubauen, einen Podcast zu erstellen, zu lesen und Sport zu treiben. Die Idee für einen Podcast entstand zufällig. »Hedi und ich saßen im Café und philosophierten über Gott und die Welt. Schließlich merkten wir, dass andere unseren Dialog verfolgten.« Da dachten sie, dass es vielleicht noch weitere interessieren könnte, und feilen jetzt an einer Aufnahme.

GESCHICHTE 1945 zählte die Chemnitzer Gemeinde laut der Vorsitzenden 40 Frauen und Männer. Dennoch existierte sie auch zu DDR-Zeiten. 1989 bestand sie aus zwölf Mitgliedern, sagt Ruth Röcher. Doch dann kamen die jüdischen Zuwanderer aus den ehemaligen Ländern der Sowjetunion, sodass die Gemeinde wieder wuchs. Im Mai 2002 konnte die Gemeinde nach fast 65 Jahren wieder eine Synagoge eröffnet werden.

Zwischenzeitlich zählte die Gemeinde zwölf Mitglieder, heute sind es 550 Frauen und Männer.

Die Gemeinde bietet Religionsunterricht für Kinder und Jugendliche an, unterhält einen eigenen Kindergarten und organisiert Bildungsveranstaltungen für Erwachsene. Unter dem Dach der Gemeinde befinden sich zahlreiche Vereine, unter anderem Chewra Kadischa, Bikur Cholim, Frauenverein, Sportverein Makkabi, Chor und Seniorenklub.

»Ich hoffe, dass unsere Mitglieder auch während der nächsten Jahre zu uns kommen und wir gemeinsam die Umbauphase meistern«, so Ruth Röcher. Daniel wird auf jeden Fall immer wieder in die Gemeinde reinschauen, wenn er ab Herbst nur noch zu Besuch in der »heimlichen Hauptstadt der Juden« ist. Denn ab Oktober studiert er Wirtschaftswissenschaften in Heidelberg.

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