Porträt der Woche

Mit frischem Geist

Sergej Kolmanovsky steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um zu komponieren

von Christine Schmitt  26.02.2023 07:50 Uhr

»Deutschland ist für mich die beste Option«: Sergej Kolmanovsky (77) kam in den 90er-Jahren von Moskau nach Hannover. Foto: Svetlana Agronik

Sergej Kolmanovsky steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um zu komponieren

von Christine Schmitt  26.02.2023 07:50 Uhr

In den frühen Morgenstunden versinke ich ganz in meine Musik. Diese ruhigen Minuten sind mir heilig. Ab 5 Uhr sitze ich vor dem Notenpapier, um zu komponieren. Ich versuche, meine Melodien mental zu entwickeln, ohne mir dabei am Klavier zu helfen, denn ich halte es für selbstverständlich, Musik nicht mit den Fingern, sondern mit Kopf und Herz zu komponieren.

Aber natürlich kommt der Zeitpunkt, an dem ich die gesamte musikalische Vertikale auf dem Klavier überprüfen muss.
Ein Frühaufsteher war ich schon immer. Ich habe festgestellt, dass ich zu dieser Zeit am besten komponieren kann. Ab 8 Uhr lebe ich dann wie ein mehr oder weniger normaler Mensch: Ich jogge, lerne Sprachen, mache Gymnastik.

Dazu kommen Termine und Proben mit Sängern oder einem Ensemble, Demo-Aufnahmen fürs Theater und viele Besprechungen. Ich treffe gern viele Menschen, allerdings sind das eher geschäftliche Anlässe. Ich habe viele Freunde, die nichts mit meinem Beruf zu tun haben, aber leider bleibt mir nur sehr wenig Zeit, um mit ihnen zu kommunizieren.

SOWJETUNION Ich bin in Moskau geboren und aufgewachsen. Mein Vater ist der berühmte Komponist Eduard Kolmanovsky, mit dessen Liedern mehr als eine Generation von Sowjetmenschen aufgewachsen ist. Musik umgibt mich seit meiner Kindheit. Früh wusste ich auch, was meine Berufung ist: Komponieren. Mit fünf Jahren fing ich an, Klavier zu spielen, vier Jahre später hatte ich meine ersten Melodien aufgeschrieben. Später wurde ich am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium aufgenommen und studierte unter anderem bei dem Komponisten Dmitri Kabalewski, dessen Werke auch in Deutschland bekannt sind. Nach dem Studium bekam ich Aufträge, sodass ich von dieser Arbeit leben konnte. Russland ist ein großes Land, und so gibt es viele Möglichkeiten.

Ich muss zur Altersvorsorge in Deutschland mehr arbeiten als früher.

Viel Vergnügen hat es mir bereitet, Musik für Märchenschallplatten zu schreiben. Diese waren sehr beliebt in Russland, es wurden mehr als zehn Millionen von ihnen verkauft. Ich komponierte auch für Spiel- und Dokumentarfilme, ebenso fürs Theater.

Mein Lied »Alter Trommelspieler« wurde zum sowjetischen Lied des Jahres 1974 und »Jung und Grün« die Erkennungsmelodie einer Radiosendung. Dadurch ging es mir und meiner Familie – meiner Frau und unseren beiden Töchtern – gut. Wir lebten in einer schönen Wohnung, und ich besaß ein Klavier; meine Frau war Berufsgeigerin. Probleme mit den Nachbarn kannten wir nicht, keiner hat sich über die Musik beschwert. Ich kann nicht sagen, dass ich ein Star war, aber ich konnte meine Familie gut ernähren.

Aber andere Aspekte des öffentlichen Lebens – Antisemitismus, Rechtlosigkeit, Mangel am Nötigsten – waren unerträglich, und schon in jungen Jahren wollte ich auswandern. Damals reiste ich oft als Tourist in kapitalistische Länder und hätte dort bleiben können, wagte es aber nicht, denn ich hatte Angst. Der Status eines anerkannten Flüchtlings schien mir sehr attraktiv, der eines Asylbewerbers hingegen nicht. Außerdem hatte ich Angst, meinen Vater zu verletzen. Wäre ich weggelaufen, hätte man die Musik meines Vaters in der Sowjetunion verboten.

Perestroika Nach der Perestroika änderte sich die politische Situation. So war ich mir sicher, dass meine Auswanderung meinem Vater nicht schaden würde. Und das Bedürfnis auszuwandern ließ nicht nach.

Der Antisemitismus im Land nahm nicht ab, und der Mangel an Nahrungsmitteln und anderen Gütern wurde noch akuter. Als ich hörte, dass Deutschland Juden aus der UdSSR unter besonderen Bedingungen aufnimmt, und mir klar wurde, dass wir sofort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen würden, stand mein Entschluss fest: Mit einem Koffer, der Violine meiner Frau und mehreren Demo-CDs reiste ich nach Deutschland. Meine Noten und Bücher kamen erst viel später in Hannover an, wo ich mittlerweile lebe.

Deutschland ist für mich die beste Option. Erstens ist es eines der musikalischsten Länder überhaupt. Überall auf der Welt beginnt das Studium der Musikgeschichte mit Johann Sebastian Bach. Zweitens war es mir sehr wichtig, nur drei Flugstunden von meinem Vater entfernt zu sein. Seit 1968, als meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, war mein Vater psychisch krank und kommunizierte vor allem mit mir. Ich habe ihn besucht, und er hat es geschafft, mich zu besuchen, und war, was mir sehr wichtig ist, mit meiner Position in Deutschland zufrieden.
Mit meinem Vater bleibe ich auch nach seinem Tod eng verbunden. Zum einen, weil ich mit seinen Liedern auftrat, aber auch, weil ich ein Buch über ihn geschrieben habe, das ich bei meinen Tourneen vorstellte.

herkunft Die größte Freude für mich in Deutschland war die Entdeckung meines Judentums. Ich habe mich von Anfang an aus moralischen Gründen für dieses Thema interessiert. Ich schämte mich, meine jüdische Herkunft zu nutzen, da ich wenig über das Judentum wusste – in meiner Heimat interessierte mich das nicht besonders. Aber allmählich wurde ich von jüdischen Themen angezogen, besonders in der Musik.

Ich gründete zwei Ensembles – beide wurden auch ins Kulturprogramm des Zentralrats aufgenommen, darunter ein Klezmer-Trio – und reiste mit ihnen durchs Land. Mein Trauergesang »Reichskristallnacht«, dem ein Text von Peter Paul Wiplinger zugrunde liegt, entstand im Auftrag des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinde von Niedersachsen und wurde 2013 bei einer Gedenkstunde zum 75. Jahrestag der Pogromnacht uraufgeführt. Beim Gedenkkonzert an die Befreiung des Lagers Bergen-Belsen wurde meine Komposition »Befreiung« gespielt.

Ferner nutze ich alle Genres, habe Opern, Sinfonien, Kammermusik und Chorwerke geschrieben und fast alles mit jüdischer Thematik verbunden.
Arbeitslos bin ich also keinesfalls. Im Gegenteil, ich muss aufgrund meiner manchmal mangelhaften Sprachkenntnisse und zur Altersvorsorge in Deutschland mehr arbeiten als in meiner Heimat. Ferner möchte ich mein Deutsch ständig verbessern und meine Englischkenntnisse mindestens erhalten, da ich nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt unterwegs bin und jetzt noch eine neue Sprache, Französisch, lerne, um mein alterndes Gedächtnis zu trainieren.

Glücklicherweise habe ich von Jugend an gelernt, dass ein freischaffender Künstler, der nicht notwendigerweise zu einer bestimmten Stunde zur Arbeit zu gehen hat, in der Lage sein muss, keine Zeit zu verschwenden.
Meine Frau bekam hier in Deutschland eine Orchesterstelle bei den Göttinger Symphonikern, beide Kinder haben studiert und gute Arbeitsstellen gefunden. Meine Tochter Olga lebt mit ihrer Familie gerade eine Tür weiter. Sie ist Sängerin, aber wir treten selten zusammen auf, da wir keine gemeinsamen Termine finden. Die andere Tochter, Anna, wohnt in Berlin und arbeitet im Musikmanagement. Wenn ich im März mein nächstes Konzert dort gebe, werden wir bestimmt Zeit füreinander haben.

Schach Vier Enkelkinder bereichern mein Leben. Sie helfen mir, alle drei Sprachen zu lernen. Mit Französisch begann ich unter anderem auch, weil ich auf die Hilfe meiner ältesten Enkelin Charlotte zählen konnte, die in Paris studiert hat. Als meine Enkelkinder klein waren, habe ich gern verschiedene Spiele mit ihnen gespielt. Mit Michael besonders oft Schach – aber nur so lange, wie ich gewonnen habe. Als er aber anfing, besser zu spielen als ich, hörte ich mit diesen Spielen auf. Es wurde mir peinlich.

Damit ich abends einschlafen kann und ein bisschen Abstand zu meinem Tagesgeschehen finde, schaue ich mir im Fernsehen Filme an. Aber sie müssen ohne nennenswerten Inhalt sein, ich möchte abends keine Inspiration mehr erhalten, sondern nur zur Ruhe kommen. Denn der nächste Tag beginnt um 5 Uhr – und auf diese frühen, ruhigen Stunden freue ich mich immer am meisten.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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