Porträt der Woche

Mensch im Werden

»Man kann das Göttliche erfahren, wenn man sich innerlich dafür öffnet«: János Darvas (70) lebt in Eckernförde. Foto: Kay Michalak / Fotoetage

Der ursprüngliche Name meiner Familie väterlicherseits war Deitelbaum, tatsächlich mit »D« geschrieben. Mein Großvater hat den Namen magyarisieren lassen, wie das in den 30er-Jahren üblich war. So wurde aus Deitelbaum der Familienname Darvas.
Die Familie meiner Mutter war Ende des 19. Jahrhunderts aus Galizien nach Budapest gekommen.

Mein Urgroßvater hieß Israel Schuchner und kam aus einem kleinen galizischen Ort in der Nähe von Lemberg, was damals zu Österreich gehörte. Er war Witwer zu dieser Zeit und heiratete eine Witwe namens Rachel. Beide brachten Kinder mit in die Ehe. Aus diesen beiden Ehen stammten meine Mutter und mein Vater. Da sie nicht blutsverwandt waren, konnten sie heiraten.

horthy-regime Den Krieg überlebte mein Vater nur, weil er zunächst in einem Arbeitslager des Horthy-Regimes inhaftiert war und später bei den Deutschen hinter der Front Handlangerdienste verrichten musste. Darüber aber hat er nie gesprochen. Meine Mutter konnte sich bei Baptisten auf dem Land verstecken. Jener Teil der Familie, der überlebt hat, ging nach der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1949 nach Wien, wo mein Vater ein Textilgeschäft eröffnete.

Ich möchte existenziell in meinem Glauben angesprochen werden.
In meiner Kindheit und Jugend war meine Identifizierung mit dem Judentum gefühlsmäßig sehr stark. Obwohl meine Eltern nicht orthodox lebten, spielten die Hohen Feiertage eine große Rolle, und natürlich wurden am Schabbatabend die Kerzen gezündet. Die jüdische Gelehrsamkeit spielte hingegen kaum eine Rolle. Meine Eltern interessierten sich eher für weltliche Bildung. Wir besuchten Museen, gingen in die Oper. Jedenfalls bin ich einerseits durch die österreichisch-ungarische Kultur geprägt, andererseits emotional durch das Judentum.

revolte Mit sechs Jahren kam ich in Wien auf die französische Schule, die ich bis zur Matura besuchte. So wurde ich also auch mit der französischen Kultur infiltriert. Zunächst habe ich in Wien Philosophie studiert. 1967 besuchte ich einen französischen Klassenkameraden in Paris und beschloss, mein Studium dort fortzusetzen. Zunächst war ich nach dem Sechstagekrieg noch mit ein paar Freunden in einem Kibbuz in Israel. Im Sommer darauf fand ich mich dann inmitten der 68er-Revolte wieder, denn ich studierte an der Université Nanterre, also dort, wo das Ganze losging.

In dieser Zeit war ich, um es poetisch zu sagen, mit avantgardistischen Tendenzen meiner Seele beschäftigt. Die Surrealisten interessierten mich und auch die Avantgarde in der Lyrik. Dann kam ich in Kontakt mit marxistischen Ideen, in die ich aber nie ganz einstieg.

Ich befand mich damals in einer geistigen Verfassung, in der ich auch um meine jüdische Identität rang. Ich ging nicht in die Synagoge, aber ich las viel – vor allem Martin Buber. Bei ihm interessierten mich seine Interpretation des Chassidismus und des Auslebens eines spirituellen Ethos im Alltag. Das hat mich total elektrisiert. Was mich auch sehr beeinflusst hat, waren seine Reden über Erziehung. Dabei ist mir die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als ein zentrales Motiv in bleibender Erinnerung geblieben.

Die Anthroposophie, die ich in jener Zeit durch einen Freund kennenlernte, würde ich nie ernst genommen haben, wenn sie sich nicht mit meinen jüdischen Motiven als kompatibel erwiesen hätte. Dafür hatte ich mich schon viel zu viel mit jüdischer Esoterik und kabbalistischer Mystik beschäftigt, aber auch mit Buddhismus und anderen orientalischen Lehren.

tendenz Mir schien, dass auch die Waldorf-Pädagogik die Ebenbildlichkeit Gottes ernsthaft ins Zentrum stellt und nicht irgendwelche Lernprinzipien. Mir fiel auf, dass der Baal Schem Tow, der Begründer des Chassidismus, zunächst ein Volksschullehrer war. Über ihn weiß man, dass er nicht als Erstes auf die Gelehrsamkeit geschaut hat, sondern auf die Erlebnisfähigkeit der Kinder. Dafür ging er mit ihnen hinaus in die Natur. Das ging später im Chassidismus verloren.

Im Talmud gibt es einen wunderbaren Satz: »Die Zukunft der Welt ruht auf dem Atem der lernenden Kinder.« Das ist ein Satz, den man auch zur Beschreibung der Waldorf-Pädagogik heranziehen könnte, dass nämlich Atmen nicht nur Rezitieren ist, sondern auch im Beobachten liegt und im Umgang mit sich selbst.

Natürlich sollen die Kinder auch das Denken lernen, aber die Erlebnisfähigkeit ist mindestens ebenso wichtig. Anthroposophie ist natürlich wieder ein anderes Thema. Wenn ich anfange, all das in verschiedene weltanschauliche Details zu zerlegen, komme ich natürlich neben Ähnlichkeiten auch zu Differenzen. Die Gesamttendenz aber ist die, dass der Mensch ein Werdender ist. Das sehe ich im Judentum auch.

individualität Ich habe gelernt, mit vielen Weltanschauungen umzugehen, etwa mit dem deutschen Idealismus bei Hegel und Kant, aber auch mit außereuropäi­schen Lehren wie dem Buddhismus und der islamischen Mystik. Daher weiß ich, dass in keiner dieser Lehren die absolute Wahrheit zu finden ist, weshalb ich Autoritätsglauben radikal ablehne. Bei allem Respekt vor Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie – ein Anhänger von ihm bin ich nicht geworden.

Im Judentum gibt es einen kollektiven Zusammenhang, ein gemeinschaftliches Schicksal, das ich sehr stark empfinde. Aber wenn ich das nicht individualisiere, dann kommt entweder Nationalismus heraus, Ultraorthodoxie oder Indifferenz. Viele Leute haben ja leider wenig Ahnung – das ist ein großes Problem innerhalb des Judentums.

Natürlich gehe ich gern auch einmal zu einer Sederfeier, wo man ein paar Traditionen pflegt, aber ich möchte existenziell in meinem Glauben angesprochen werden, und es behagt mir nicht, wenn ich nur jüdische Folklore erlebe. Wenn ich mich als moderner Mensch einem Kollektiv anschließe und zu meiner Individualität Nein sage, habe ich ein abgelaufenes, mittelalterliches Paradigma, das heutzutage unauthentisch ist.

kaddisch In der Praxis war ich einige Jahre Waldorf-Lehrer in Frankreich. Und in Lausanne habe ich eine Oberstufe mit aufgebaut. Ich unterrichtete Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur. 1993 kam ich mit meiner nichtjüdischen Frau und unseren drei Söhnen nach Eckernförde, wo meine Frau eine Arbeit als Heileurythmistin fand. Ich unterrichtete nur zeitweilig an der hiesigen Freien Waldorfschule. Denn zweimal im Jahr fahre ich ins ungarische Solymár, wo ich als fachlicher Leiter das Institut für Waldorf-Pädagogik mit aufgebaut habe. Dort unterrichte ich Studenten, die später Philosophie lehren wollen.

Vor 20 Jahren starb in Wien mein Vater, und gemäß der Tradition musste ein Jahr lang täglich Kaddisch gesprochen werden. Das war halachisch ein Problem, weil das nach rabbinisch-mittelalterlicher Tradition nur in einem Minjan gesprochen werden durfte. Es gab aber damals hier in der Nähe meines Wohnorts Eckernförde noch keine Gemeinde. Also habe ich täglich allein Kaddisch gesagt. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich von dieser Gebetsmeditation ungeheuer getragen werde. So hat sich meine jüdische Seele wieder gemeldet. Seither weiß ich, dass es ein Judentum ohne Religion nicht gibt.

Als dann in Kiel eine Gemeinde gegründet wurde, bin ich dort gelandet. Eine Weile gehörte ich sogar dem Vorstand an. Fortan musste ich das kultisch-religiöse Judentum nicht mehr allein praktizieren, sondern konnte dies in der Gemeinschaft tun. Und weil ich nicht nur nehmen, sondern auch etwas geben will, vertrete ich die Gemeinde in einem interreligiösen Arbeitskreis in Kiel. Dort habe ich viele interessante Gespräche mit Christen, Buddhisten und anderen.

ostsee-krimi Gotteserfahrungen ist der Titel eines Buches, das ich geschrieben habe. Im Untertitel heißt es: Perspektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen. Dazu gäbe es viel zu sagen. Nur so viel: Man kann das Göttliche erfahren, wenn man sich innerlich dafür öffnet.

Das kann man im Kleinen und im Großen spüren, es muss nicht unbedingt eine überwältigende Erfahrung sein. Ich habe diese Erkenntnis in der Meditation gewonnen, als ich bemerkte, dass ich mit etwas Höherem im Gespräch bin. Für dieses Buch habe ich versucht, solche Erfahrungen in verschiedenen Religionen aufzuspüren. Sie sind natürlich nicht identisch, da sie ja durch den Filter seelischer Konstitutionen laufen, die durch unterschiedliche religiöse Traditionen erzeugt werden.

Heute würde ich sicher vieles anders schreiben, vor allem weniger im anthroposophischen Jargon. Übrigens habe ich noch einen Ostsee-Krimi mit dem Titel Keine Spuren im Sand verfasst und als E-Book selbst verlegt – eine Geschichte mit einem Rabbiner als Ermittler, die Einblicke in jüdisches Leben gibt.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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