Jom Haschoa

»Massenhaft Schuhe und Kleider«

Die ZWST-Gruppe auf ihrem March of the Living in Auschwitz Foto: ZWST

Der Weg ist uneben. Überall liegen Steine, Schotter, Sand – drei Kilometer. Ihn zu gehen, ist nicht leicht. Trotzdem haben sich junge Erwachsene am vergangenen Donnerstag aufgemacht, genau diese drei Kilometer zu laufen. Schweigend, Arm in Arm oder allein, bedeckt mit einer Israelfahne. Von der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Birkenau.

Beim 30. »March of the Living« kamen fast 13.000 junge Juden aus der ganzen Welt zusammen, um den Weg zu gehen, den seit 1988 mehr als 260.000 Teilnehmer im Gedenken an die Opfer der Schoa gegangen sind.

Unter den Teilnehmern des March of the Living war auch in diesem Jahr wieder eine deutsche Delegation. 40 junge Erwachsene, die vom stellvertretenden ZWST-Direktor Aron Schuster, der Pädagogin Xenia Fuchs und Ilya Daboosh, der bei der ZWST für das Programm »Achtzehnplus« zuständig ist, begleitet wurden.

Rundreise Dem March of the Living ging eine Reise an verschiedene Orte in Polen voraus. Seit dem 15. März war die Gruppe unterwegs, in Posts auf der Facebook-Seite der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) hielten die Jugendlichen ihr Programm, ihre Begegnungen und auch ihre Gefühle fest.

»Bewegend und emotional« sind wohl die Worte, die die meisten Gruppenmitglieder mit der Reise verbinden. Ob Gespräche mit Zeitzeugen oder Synagogenbesuche: Das, was die Jugendlichen vor Ort sahen und hörten, war für sie oft erdrückend.
Die Fahrten zu den ehemaligen Konzentrationslagern Majdanek, Belzec, die Fahrten in die Stadt Zbylitowska, »ein Ort des Schreckens, an dem viele Juden, aber vor allem jüdische Kinder, massenweise ermordet wurden«, waren für die jungen Erwachsenen emotional anstrengend.

emotionen
Die 18-jährige Noa Kosman aus Köln wird wohl noch einige Zeit benötigen, um das Gesehene zu verarbeiten. Die Reise habe sie sehr mitgenommen, erzählt die Schülerin. Sicher wisse sie, was während der Schoa passiert ist, aber »jetzt habe ich das auf einer ganz anderen Ebene wahrgenommen«.

Auch die 19-jährige Annabel Targownik aus München ist noch sehr von ihren Gefühlen überwältigt. »Beim Anblick der Massen an Schuhen, Brillen und Prothesen, Kleidern und Haaren ist mir schlecht geworden.« Für sie sei es »ziemlich schwer«, und sie konnte die Situation nicht wirklich realisieren, sagt Annabel.

Denn während draußen Jugendliche aus vielen Ländern Anstecker tauschten und sich einander kennenlernten, hatte die junge Frau noch mit den Bildern zu kämpfen, die sie gerade erst gesehen hatte. »Ich wollte mich freuen, weil ich sehr gerne neue Leute kennenlerne und Kontakte zu anderen Menschen schließe«, sagt Annabel. Aber dann kam dieser Moment, in dem sie sich gefragt habe: »Wo sind wir hier eigentlich?«, erzählt die Münchnerin.
Arm in Arm durchschritten die jungen Leute das Tor zum Stammlager Auschwitz.

Gemeinsamkeit Kraft gaben ihr in diesem Moment ihre Freunde und überhaupt der Zusammenhalt in der Gruppe. Gemeinsam gingen Annabel und Noa und die gesamte ZWST-Gruppe dann auch durch das Tor. Sie hielten die beiden langen Israelflaggen fest und liefen einfach. »Es war kein Trauerzug«, sagt Annabel. »Alle haben miteinander geredet. Teilweise auch über ganz alltägliche Sachen.«

Zuerst habe sie gedacht, das es nicht richtig sei, über Banales zu sprechen. »Und es sollte mehr wie ein Trauerzug sein«, so die junge Frau. Dann aber habe sie sich gesagt: »Eigentlich ist es doch gut, über die Zukunft zu sprechen. Das zeigt noch mehr, dass wir weitergehen, dass wir gewonnen haben, dass wir immer noch da sind und an die Zukunft denken.« Das gemeinsame Singen habe ebenfalls sehr geholfen. Annabel spürt heute noch die Gänsehaut. »Es war sehr emotional.«

Genauso fühlte sich auch Noa. »Der Marsch und die Zeremonie waren für mich sehr bedeutungsvoll. Ich kann es auch gar nicht beschreiben, wie es für mich war, mit Zehntausenden Menschen zu marschieren, die die Israelflagge mit so viel Stolz hochgehalten haben.«

israel Beim March of the Living »mit Israelflaggen zu stehen und zu wissen, dass wir überlebt haben, dass wir stark sind und dass unser Zusammenhalt uns nicht unterkriegt, ist einfach unglaublich«, beschreibt Noa ihre Gefühle. Das zeige auch, wie wichtig Israel sei. »Wir haben ein Land, das uns in Zukunft beschützen wird, das für uns immer ein Zuhause sein wird, und das hatten wir während des Zweiten Weltkriegs nicht.« Deshalb ist Noa stolz, Israel zu haben.

Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Denn fast jeder der jungen Erwachsenen trug während des Marsches Israelfahnen oder hatte sie sich umgelegt. Delegationen aus den unterschiedlichsten Ländern sangen zwischendurch immer wieder gemeinsam. Lieder, »die uns Juden auf der ganzen Welt verbinden. ›Am Israel Chai‹«, schrieben Noas Mitreisende Yael Fechtner und Mischa Ushakov in ihr Online-Tagebuch.

Geschichte Annabel, Noa, Yael und Mischa haben sich mit vielen anderen auf den Weg begeben, der ihnen nicht zuletzt durch eine Unterschrift am 21. April 1951 vorgegeben wurde. An diesem Tag setzten das israelische Parlament, die Knesset, unter David Ben Gurion und Jizchak Ben Zwi das Datum 27. Nissan als nationalen Feiertag zum Gedenken an die Opfer der Schoa fest. Seit 1988 versammeln sich Tausende vor allem junge Juden an der Gedenkstätte des ehemaligen KZs Auschwitz, um gemeinsam zum ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu laufen.

Seinen Namen »Marsch der Lebenden« hat der drei Kilometer lange Weg erst später erhalten. Der Begriff bezieht sich auf die sogenannten Todesmärsche, zu denen die KZ-Häftlinge von den SS-Wachmannschaften in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht der Nazis vor den heranrückenden alliierten Streitkräften gezwungen wurden.

Vor dem Datum des Jom Haschoa hat eine Gruppe von 21 jungen Leuten aus Osnabrück das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz besucht. Eine Besonderheit, wie der Osnabrücker Rabbiner Avraham Radbil sagt, handelte es sich hierbei doch um Jugendliche aus dem Bistum Osnabrück sowie junge Leute von der Jüdischen Gemeinde Osnabrück. Wenn man mit einer solchen gemischten Gruppe nach Auschwitz fahre, ändere sich der Schwerpunkt der Reise, sagt Radbil. »Wenn man mit einer jüdischen nach Auschwitz fährt, dann ist der Schwerpunkt eher ›Wir haben trotzdem überlebt.‹« Die christliche Gruppe betone eher, »dass so etwas nie wieder passieren darf«.

Blickwinkel Dem pflichtet auch Awi Blumenfeld, Leiter des Instituts für Jüdische Religion an der kirchlich-pädagogischen Hochschule Wien/Krems, bei, der ebenfalls an der Fahrt teilnahm. Er schätze den intellektuellen Anspruch einer gemischten Gruppe höher ein, wie er der Bistumszeitung sagte. »Du steigst dann in Thematiken ein, die jeder aus einem anderen Blickwinkel sieht.«

Rabbiner Radbil freut sich über das gelungene Experiment und ergänzt die Aussage eines christlichen Jugendlichen, der sich durch das Treffen mit jüdischen Jugendlichen darin bestärkt fühlt, gegen Rechtspopulismus vorzugehen. »Es ist ein großes Wunder, dass Juden jetzt hier sein können«, sagt Rabbiner Radbil.

»Und es ist ein Segen, dass wir nach so kurzer Zeit wieder zusammensitzen und darüber sprechen können.« Auf jeden Fall seien Fahrten wie diese heute wichtiger denn je, betont der Rabbiner.

Die Zahl der Holocaust-Leugnungen steige spürbar an. Junge Menschen seien daher künftig die Botschafter, die an den Holocaust erinnern und gegen das Vergessen vorgehen sollten, wenn es eines Tages keine Zeitzeugen mehr geben wird, so Radbil.

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