Egalitärer Minjan

Mackie Messer und Adon Olam

Wo ist der Rabbi?», fragt Kantorin Flora Polnauer trällernd, während sie von Max Doehlemann am Klavier und Paul Brody an der Trompete begleitet wird. Rabbiner Walther Rothschild wartet derweil noch am Eingang der Mendelssohn-Remise. Hier findet seit Februar einmal monatlich ein egalitärer Minjan statt. Drei Beter aus Hannover stecken im Stau, er wolle Ausschau halten, ob sie angekommen seien, ruft der Rabbiner den Musikern zu. Sie improvisieren schnell noch ein paar Takte, dann beginnt der Gottesdienst mit rund 35 Betern.

«Singen und lesen Sie bitte mit», fordert Rothschild die Anwesenden auf. Dann ruft er seine Tochter nach vorn, um die Kerzen anzuzünden. Gemeinsam mit den Musikern singt der Rabbiner die Psalmen. Manchmal pfeift und klatscht er im Rhythmus mit. Dann wiederum singen und beten die Gottesdienstbesucher aktiv zusammen.

«Unsere Liturgie unterscheidet sich nicht von der eines liberalen Gottesdienstes», erklärt der Rabbiner später beim Kiddusch. Sie ist ihm bestens vertraut – immerhin war er vor 15 Jahren kurzzeitig Rabbiner in der Pestalozzistraße. Bis vor Kurzem betreute er als Landesrabbiner die Gemeinden in Schleswig-Holstein. In der Mendelssohn-Remise leitet er nun einmal monatlich Gottesdienste mit Musik.

gegenwind
In seiner Predigt berichtet Rothschild von «Gegenwind» zum egalitären Minjan. Der Grund? «Bei uns sitzen Frauen und Männer nebeneinander, Frauen können ebenfalls vorsingen, Beter sind dazu eingeladen, die Feier mitzugestalten – es soll nicht statisch sein», erklärt der Rabbiner.

Nun ist die Mendelssohn-Initiative jedoch bei Weitem nicht der einzige egalitäre Gottesdienst-Anbieter – in der gemeindefinanzierten Oranienburger Straße etwa finden ebenso egalitäre Gottesdienste statt wie im gemeindeunabhängigen Ohel Hachidusch von Kantorin Jalda Rebling. Aktiv und egalitär mitgestalten können Beter den Gottesdienst also auch in anderen Synagogen. Wieso dann also 15 Euro für etwas zahlen, was man anderswo schon mit seinem Mitgliedsbeitrag abdeckt?

«Die Idee gefällt mir, zumal mit Jazz und stimmungsvoller Atmosphäre», meint etwa ein Gemeindemitglied, das anonym bleiben möchte. «Allerdings bin ich nicht gewillt, dafür 15 Euro zu zahlen – immerhin zahle ich bereits Gemeindesteuer.» Die Idee zum egalitären Minjan kam Noa Lerner-Sauerbaum im Winter beim Abendessen mit Freunden. «Warum nicht einmal etwas ganz anderes ausprobieren?», fragten sie sich – einen Gottesdienst, den sie selbst mitgestalten.

Auch Max Doehlemann gefiel die Idee, so war der Komponist von Anfang an dabei. Als Ort kam recht schnell die Mendelssohn-Remise infrage, die Doehlemann von seinen Auftritten als Musiker kannte. Für eine günstige Miete kann die Initiative nun regelmäßig alle vier Wochen die Räume in der Jägerstraße nutzen.

«Bei unseren Überlegungen spielte auch der Gedanke eine Rolle, den Kindern, etwa meinem zwölfjährigen Sohn, einmal etwas anderes zu zeigen. Wir wollen Ergänzung zu den anderen Gottesdiensten sein, keine Konkurrenz», betont Noa Lerner-Sauerbaum. Die Synagoge Pestalozzistraße besuche sie weiterhin. «Ich mag die Liturgie dort sehr, mein Sohn wird im nächsten Januar dort auch seine Barmizwa feiern», erzählt sie.

rhythmus Zwar folge die Liturgie der liberalen Tradition, dennoch sei der Gottesdienst eben nicht egalitär, wirft Max Doehlemann ein: Die Frauen sitzen getrennt von den Männern und dürfen nicht vorbeten. «Mir geht es um einen liberalen, offenen, zeitgemäßen Gottesdienst», meint der Musiker. Der Stil in der Mendelssohn-Remise sei eher «informell» und «anglo-amerikanisch» orientiert, beschreibt Rothschild den Unterschied aus seiner Sicht.

«Wir nutzen traditionelle Melodien in anderen Rhythmen und Harmonien», erklärt Max Doehlemann. «Als Musiker nehmen wir uns zurück – schließlich ist es ein Gottesdienst, keine Performance.» Die 15 Euro Gebühr und einen Beitrag zum Kiddusch finden die Initiatoren durchaus angemessen.

«Was ist einem ein Gottesdienst wert? So viel Geld gibt man auch für eine Kinokarte aus», begründet Lerner-Sauerbaum die Rahmenbedingungen. Die Musiker und der Rabbiner seien ehrenamtlich dabei, von dem Geld würden hauptsächlich Miete, Challot, Kerzen und der Wein bezahlt. «Wir wollen kein Geld von der Gemeinde, der Stadt oder dem Zentralrat», betont Rabbiner Rothschild. «Wenn regelmäßig 30 Beter kommen, dann hätte unser egalitärer Minjan eine Zukunft», glaubt Lerner-Sauerbaum. Dann käme auch die Gründung eines Vereins infrage.

In Berlins vielseitiger jüdischer Szene wäre das durchaus nichts Ungewöhnliches – schon so manche neu gegründete Beterschaft brachte bislang auch außerhalb der Einheitsgemeinde Gleichgesinnte zusammen. Das Spektrum reicht dabei von egalitär-liberal bis modern-orthodox. Viele von ihnen finanzieren sich durch Sponsoren und Mitgliedsbeiträge.

zuspruch Gaby Baum hat Gottesdienste in fast allen Berliner Synagogen besucht. Sie engagiert sich in der Synagoge Pestalozzistraße. So etwas wie der Minjan habe bislang gefehlt. «Was soll falsch daran sein, Facetten jüdischen Lebens selbstständig zu gestalten?»

Zum Abschluss des Gottesdienstes singen Beter, Musiker und Rabbiner gemeinsam Adon Olam – zur Melodie der Mackie-Messer-Ballade aus der Dreigroschenoper. Zu Klavier und Trompete gesellt sich womöglich demnächst ein weiteres Instrument. Denn nach dem Kiddusch wendet sich eine Beterin an Max Doehlemann: Sie spiele Querflöte. Den nächsten Gottesdienst will sie gerne selbst aktiv mitgestalten.

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