Ulm

Letzte Buchstaben

Mit einem fröhlichen Umzug vom Ulmer Rathaus zur neuen Synagoge am Weinhof wurde am vergangenen Sonntag eine neue Torarolle in die Synagoge eingebracht. Die kleine Gemeinde hat allen Grund, stolz zu sein. Sie finanzierte ihre Torarolle zu einem Großteil selbst. Und ihre Torarolle ist es auch, die bundesweit erstmals in einem Landtag weitergeschrieben wurde.

Denn schon zwei Tage vor dem festlichen Ereignis in Ulm hatte die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras ihre linke Hand an die aus Israel gebrachte Torarolle gelegt, während Schreiber Dov Ginzburg mit dem Federkiel einen von insgesamt 304.805 Buchstaben schrieb.

Der Parlamentspräsidentin folgten Staatsminister Klaus-Peter Murawski, Landesrabbiner Netanel Wurmser und weitere Vertreter aus Politik und Religionsgemeinschaften. »Israel« – die letzten sechs Buchstaben allerdings schrieb dann Rabbiner Schneur Trebnik im Ulmer Rathaus. Mit dem Einbringen der neuen, dritten Torarolle wurde zugleich das fünfjährige Bestehen der Ulmer Synagoge gefeiert.

traum Der Bau in unmittelbarer Nähe zur alten, von den Nazis zerstörten Synagoge wurde viele Jahre lang für völlig unrealistisch gehalten. »Vor 17 Jahren, als ich, meine Frau Chani und unsere Tochter Mushka aus Israel nach Ulm kamen, hatten wir viele schlaflose Nächte und unruhige Tage«, gestand Rabbiner Schneur Trebnik in einer bewegenden Rede im Ulmer Rathaus.

Ihr Traum, so der Rabbiner, sei es gewesen, eines Tages am Schabbat einen Minjan zu haben. »Und jeder, der uns damals hörte, hat gelacht und gesagt, ihr seid jung und naiv, das schafft ihr nie«, sagte Schneur Trebnik. Doch der Rabbiner fand nicht nur Unterstützung durch den Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg mit Sitz in Stuttgart. Initiativ wurden auch Ulmer Politiker, allen voran der damalige Oberbürgermeister Ivo Gönner.

So konnte am 2. Dezember 2012 in Anwesenheit von Bundespräsident Joachim Gauck, Ministerpräsident Winfried Kretschmann und vielen Vertretern der Öffentlichkeit die neue Synagoge am Weinhof eröffnet werden. Und schon damals beobachteten viele Passanten den Umzug zweier Torarollen durch die Altstadt.

Anschlag Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nahm das Fest am Sonntag zum Anlass für klare Worte. In einer Anschlagsserie war die Ulmer Synagoge in den vergangenen Monaten beschädigt worden. Eine Videokamera hatte die Taten und mehrere Zeugen aufgezeichnet. Der oder die Täter allerdings haben sich bis heute nicht gestellt. »Ob das Vandalismus war oder Antisemitismus, ist gleichgültig«, sagte Abraham Lehrer. Tatsache sei, Menschen schreckten »nicht davor zurück, Hand an eine Synagoge zu legen«.

»Antisemitismus ist in allen Gesellschaftsschichten zu finden«, mahnte der Zentralratsvize. Lehrer vermisst im aktuellen Deutschland »die Mitte der Gesellschaft«. Nach Umfragen bekennen sich 20 Prozent der Bürger zu offenem oder latentem Antisemitismus. Ergebnis dieser »besorgniserregenden Insuffizienz« sei der Einzug der AfD als drittstärkste Partei in den Bundestag, aber auch in den Landtag von Baden-Württemberg.

Mit unbewegter Miene hatte am Freitag bei der Fortschreibung der Torarolle im Stuttgarter Landtag auch Bernd Gögel, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Parlament, teilgenommen.
Drei Tage später erinnerte Staatssekretär Martin Jäger ebenfalls an die antisemitischen Vorfälle an der Ulmer Synagoge. Er mahnte, alle seien in der Pflicht, die jüdische Gemeinde nie alleinzulassen. Haltung müsse immer gezeigt werden, stellte auch Oberbürgermeister Gunter Czisch klar. »Ulm soll Heimat für alle sein – die jüdische Gemeinde belebt die Stadt und hat sich zum Motor entwickelt«, sagte Czisch.

spenden »Ein Freudenfest« nannte Susanne Jakubowski vom Vorstand der IRGW das Einbringen der neuen Torarolle am Sonntag. »In Ulm, an den Ufern der Donau, ist ein kleines Wunder geschehen«, so Jakubowski. Die Initiative für eine neue Torarolle sei aus der Gemeinde selbst gekommen. Obwohl sozioökonomisch »nicht auf Rosen gebettet«, hätten Gemeindemitglieder Geld aus vollem Herzen gespendet. »Viele haben sich das Geld vom Munde abgespart«, sagte Jakubowski.

Die aus der ehemaligen Sowjetunion emigrierten Menschen seien aufgewachsen in einem Regime, das Religion zu unterbinden suchte. Mit ihrer Einwanderung habe sich das für sie geändert.
Wie lang der Weg von der Idee bis zum Erfolg war, beschrieb Rabbiner Trebnik. »Vor zwei Jahren saßen wir während der Hohen Feiertage zusammen, jemand stand auf und sagte, wir haben doch nur zwei Torarollen und müssen manchmal aus drei Stellen lesen.«

So sei es zum Spendenaufruf für eine dritte Torarolle gekommen, vom Förderverein Ulmer Synagoge unterstützt. Weil »aus der Fantasie Realität« geworden ist, seien die letzten Buchstaben zu Ehren der Stadt und des Landes geschrieben worden, sagte Trebnik.

musikbox Nachdem der Rabbiner »Israel«, das letzte Wort der Torarolle, geschrieben hatte, formierten sich die Anwesenden zu einem festlichen Umzug. Rabbiner aus ganz Deutschland, Gemeindemitglieder, Vertreter von Politik und Religionsgemeinschaften zogen mit der Toraolle unter dem Baldachin vom Rathaus zum Weinhof. Sie folgten einem Unimog 401 mit einer Musikbox.

Das Fahrzeug gehörte einst der Firma Simon H. Steiner, die im 23 Kilometer von Ulm entfernten Laupheim einen Hopfenhandel betrieb. Laupheim war einst eine der größten jüdischen Gemeinden in Oberschwaben. 1936 ging ein Teil der Familie Steiner in die Schweiz, 1937 starb Simon Steiner im Gefängnis nach einem durch Denunziation angestrengten Gerichtsprozess – nur ein trauriges Beispiel des Schicksals von Juden in Ulm während der Nazizeit.

Prominentester jüdischer Sohn von Ulm bleibt wohl der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein. War in der Weimarer Republik eine Straße nach ihm benannt worden, strichen die Ulmer Stadtväter den Namen in der Nazizeit – um nach dem Ende des Faschismus den Straßennamen Albert Einstein wiederzubeleben.

Auch deshalb kann nur richtig sein, wenn Staatssekretär Martin Jäger fordert, »in Kirchen, Schulen und Moscheen« den Antisemitismus durch Aufklärung zu bekämpfen. Denn zur Zukunft Ulms, so Jäger, gehöre auch das Judentum.

alltag Erinnern, singen, tanzen, feiern – Musiker aus Israel spielten zum Tanz auf, und Besucher stellten fest: »Die Synagoge rockt.«

Nach dem Fest folgt der Alltag für den Rabbiner und seine Gemeinde. Fast täglich wird ein Gottesdienst abgehalten. Zwei Gruppen werden in Religion unterrichtet, fünfmal pro Woche gibt es religiöse Unterweisung für Erwachsene, Studenten erhalten akademischen Unterricht, Senioren Deutschunterricht. Und die Jüngsten besuchen den Kindergarten. »Ohne unsere Träume und Fantasien, ohne unser Gebet zu Gott hätten wir all das nicht geschafft«, sagt Rabbiner Schneur Trebnik.

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