Kassel

Lernen im Dialog

Kein bisschen müde: Esther Hass Foto: Gabriela Sümer

Es ist Sonntag, gegen elf Uhr. Glockengeläut verabschiedet die letzten Beter aus den Kirchen der Kasseler Innenstadt. Ein paar Besucher wechseln vom christlichen Gotteshaus in die Synagoge in der Bremer Straße. Dort öffnet einmal pro Monat sonntags um halb zwölf das Franz-Rosenzweig-Lehrhaus seine Tore. Dieses Jahr feiert es sein zehnjähriges Bestehen.

Leiterin, Gründerin und Lehrerin in einer Person ist Esther Hass. Die 80-Jährige ehemalige Gemeindevorsitzende unterrichtete lange an einer allgemeinbildenden Schule. Im Lehrhaus will sie »Öffentlichkeitsarbeit für das Judentum« betreiben – gerade in Zeiten, in denen der Antisemitismus wieder erstarkt. Freilich will sie das, was sie auch »Aufklärung« nennt, nicht mit erhobenem Zeigefinger tun. Auf dem Umweg über Texte aus dem Tanach diskutiert sie über das Leben, über Politik. »Ich scheue mich nicht, auch heiße Themen anzupacken.« Sexualität sei eines davon.

Flüchtlinge Für die erste Hälfte des Jubiläumsjahres setzte sie sechs Veranstaltungen zu »Josef im Perspektivwechsel« auf den Lehrplan. Die Schüler an diesem Sonntag sind fast nur Frauen, eine von ihnen hat ihren Mann mitgebracht. Sie sprechen über »Josef in tiefer Not« – unter anderem darüber, wie der junge Mann es schaffte, sich den Avancen der Frau seines Herrn zu widersetzen. Die 68-jährige Doris Gillessen erinnert sich bei diesem Thema daran, dass sie mit 21 geheiratet hat. Warum, fragt sie sich, geben sich junge Männer und Frauen heute – wenn überhaupt – so spät das Ja-Wort? Die Diskussion landet bei der Frage nach der Situation junger Männer, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen und hier einen Weg finden müssen, mit ihrer Sexualität umzugehen.

Doris Gillessen hat 30 Jahre im Diakonissenheim gearbeitet und kommt seit Jahren ins Lehrhaus. Sie erlebe hier Glauben »viel intensiver« als in ihrer Kirche, sagt sie. Sie wolle selbstverständlich nicht missionieren, betont Esther Hass. Vor allem will sie ihre erwachsenen Schüler dazu animieren, Fragen über das Judentum zu stellen. »Eine falsche Frage«, lautet ihr Prinzip, »bringt mitunter mehr Aufklärung als eine vermeintlich richtige.«

Toleranz Der Namensgeber des Lehrhauses, der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig, vertrat genau dieses »dialogische Prinzip«. 1886 in Kassel geboren, gilt er als Streiter für Toleranz. In seinem Hauptwerk Stern der Erlösung formulierte er, dass keine Religion die absolute Wahrheit für sich gepachtet habe. Indem sich die Religionen auf Gott beziehen, werde ihnen ein Teil der Wahrheit zugänglich. Der Dialog zwischen Christen und Juden verband sich bei ihm stets mit der Frage, was jüdische Identität in einer Gesellschaft ausmacht, die von Assimilierung und Antisemitismus geprägt ist. Als seine wissenschaftliche Karriere vom Übertritt zum christlichen Glauben abhängig gemacht werden sollte, entschied er: »Ich bleibe also Jude.«

1920 gründete Rosenzweig in Frankfurt am Main das Freie Jüdische Lehrhaus. Statt eines Rabbiners lehrten Historiker, Mediziner oder Philosophen. Statt Religion, Geschichte des jüdischen Volkes und Hebräisch standen die Probleme des Alltags auf dem Stundenplan. Das vor zehn Jahren entstandene Lehrhaus steht im Kontext der Wiederentdeckung des Kasseler Sohnes. 1979 veranstaltete die damalige Gesamthochschule ein Gedenkseminar; zu Rosenzweigs 100. Geburtstag gab es in Kassel einen ersten internationalen Kongress zu seinem Werk, und seit 1987 stiftet die Universität eine Rosenzweig-Gastprofessur.

Esther Hass will trotz aller gesundheitlichen Widrigkeiten, die das Alter mit sich bringt, und trotz diverser gesellschaftlicher Verpflichtungen das Lehrhaus nicht aufgeben. Auf die Frage nach einer Nachfolgerin sagt sie mit der ihr eigenen Chuzpe: »Ich ignoriere den Spruch, jeder sei ersetzbar!« Sie hätte nur gern ein paar neue »Schüler«. Und deshalb postet sie ihre Veranstaltungen eben auch auf Facebook.

Das nächste Kasseler Franz-Rosenzweig-Lehrhaus findet am Sonntag, 11. März, um 11.30 Uhr in der Synagoge, Bremer Straße 3, statt. Eintritt: fünf Euro.

Immobilie

Das jüdische Monbijou

Deutschlands derzeit teuerste Villa auf dem Markt steht auf Schwanenwerder und soll 80 Millionen Euro kosten. Hinter dem Anwesen verbirgt sich eine wechselvolle Geschichte

von Ralf Balke  26.12.2025

Dating

Auf Partnersuche

Matchmaking mit Olami Germany – ein Ortsbesuch

von Jan Feldmann  23.12.2025

München

Ein kraftvolles Statement

Beim Gemeindewochenende nahmen zahlreiche Mitglieder an Diskussionen, Workshops und Chanukka-Feierlichkeiten teil

von Esther Martel  23.12.2025

Erfurt

Die Menschen halfen einander

Pepi Ritzmann über ihre Kindheit in der Gemeinde, ihre Familie und Antisemitismus. Ein Besuch vor Ort

von Blanka Weber  22.12.2025

Geburtstag

Holocaust-Überlebender Leon Weintraub wird 100 Jahre alt

Dem NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entkam Leon Weintraub durch eine Augenblicks-Entscheidung. Heute warnt er als Zeitzeuge in Schulklassen vor Rechtsextremismus. Am 1. Januar feiert er seinen 100. Geburtstag

von Norbert Demuth  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

WerteInitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 24.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Aufgegabelt

Apfel-Beignets

Rezept der Woche

von Katrin Richter  20.12.2025