Initiative

»Kein Kind soll frieren«

So langsam trauen sich die ersten Gäste in den Laden in Prenzlauer Berg. Vor allem Mütter mit kleinen Kindern schauen sich in dem Raum um, den Inhaberin Nizana Brautmann, eine Immobilienmaklerin, für ein Wochenende in ein provisorisches Geschäft voll ungewöhnlicher Strickwaren umfunktioniert hat. Die Kundinnen probieren das eine oder andere Kleidungsstück an.

Lihi, Dean und Elisheva Koren stehen strahlend daneben. Einige Tage Arbeit stecken in der Dekoration. Persönliche Familienfotos hängen an der Wand, kleine Snacks und Getränke stehen bereit, und eine große Auswahl an Gestricktem liegt sorgfältig im Raum ausgebreitet.

Mal hängen die farbenfrohen Unikate auf Bügeln, mal sind sie um alte Koffer drapiert. Die Stimmung ist fröhlich, die Tochter und die Enkel sind neugierig: Werden sie die Kleidungsstücke für Babys heute alle los? Das ist der Wunsch ihrer Oma, die in der Verkaufsaktion ihre Art der Vergebung sieht.

Polen Die 80-jährige Esther Prishkolnik lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in Israel. Obwohl, das mit dem Alter sei so eine Sache, erzählen ihre Enkel Dean und Lihi. Denn das genaue Geburtsdatum von Esther ist nicht bekannt. Ihre Großmutter meint, es handle sich um das Jahr 1936, sie könne sich daran erinnern, dass es sehr kalt gewesen sei. Irgendwann habe sie sich auf ein Datum festgelegt: den 31. Dezember 1936. Ihr Geburtsland, das sei allerdings sicher, ist Polen.

Im Alter von drei Jahren floh Esther Prishkolnik mit ihrer damals sieben Monate alten Schwester und ihren Eltern in die Ukraine. Die Wehrmacht hatte Polen überfallen. Wer fliehen konnte, packte seine Sachen. Damit nahm die persönliche Tragödie Esther Prishkolniks ihren Anfang. Sie verlor wenige Zeit später ihre Mutter, die nur kurz in einem Lebensmittelgeschäft ein paar Erledigungen machen wollte, aber nie zurückkehrte. Als Halbwaise kümmerte sie sich von da an um ihre kleine Schwester.

sibirien Ihr Vater habe mit der Zeit die Hoffnung aufgegeben, dass seine Frau zurückkehren würde. Also entschied er, mit seinen beiden Töchtern weiter gen Russland zu ziehen, nach Sibirien. »Er holte dort Wasser aus einem nahe gelegenen Fluss für ein Restaurant«, schreibt die 80-Jährige in ihren Memoiren, »bis er von der Roten Armee eingezogen wurde. Meine Schwester und ich, wir waren die meiste Zeit auf uns allein gestellt, bis sie sehr krank wurde und ins Krankenhaus musste. Unser Vater entschied daraufhin, mich in ein russisches Waisenhaus zu geben. Von da an lebten wir bis zum Ende des Krieges alle getrennt voneinander.«

In Sibirien habe ihre Großmutter das Stricken gelernt, sagt Esthers Enkelin Lihi. Eine alte russische Frau habe es ihr beigebracht. Esther sei ein sehr aufgewecktes Mädchen gewesen. »Sie beherrschte vier Sprachen – Russisch, Jiddisch, Französisch sowie etwas Deutsch; sie versuchte von jedem, dem sie begegnete, etwas zu lernen.«

Wenn die 28-Jährige über ihre Oma spricht, kommt sie aus dem Schwärmen nicht heraus. »Sie ist so stark, eine richtige ›Superwoman‹«, sagt Lihi. Mindestens einmal pro Woche gehe sie sie besuchen. Das Stricken habe sie selbstverständlich auch von ihr gelernt. Genauso wie ihr Bruder Dean. »Die blaue Mütze dort zum Beispiel habe ich gemacht«, sagt der 27-Jährige und zeigt auf das Kleidungsstück. »Innerhalb eines Abends habe ich sie mithilfe meiner Oma gefertigt«, sagt er.

Die Familie lebt heute über ganz Israel verteilt: Lihi ist Sozialarbeiterin in Tel Aviv, Dean studiert Informatik und Mathematik in Jerusalem, die Eltern der beiden leben in Haifa. »Unsere Bobe wohnt bei mir in der Nähe«, sagt Lihi. Bobe ist das jiddische Wort für Oma.

verlust Erst vor wenigen Jahren hat Esther Prishkolnik damit begonnen, aus ihrem Leben zu erzählen. »Das Einzige, worüber sie schon immer gesprochen hatte, war der Verlust ihrer Mutter«, sagt Dean. Außer einem Foto sei Esther nichts von ihr geblieben. Eine Kopie davon, auf Holz gedruckt, haben die Enkel mit nach Berlin gebracht. Es zeigt Esther Prishkolnik, wie sie als Kleinkind auf einer Decke liegt; ihre Mutter sitzt hinter ihr; beide blicken neugierig in die Kamera.

1949 wurden Kinder aus dem russischen Waisenhaus, in dem die Großmutter aufgewachsen war, nach Israel umgesiedelt. Esther Prishkolnik besuchte nun ein Internat für Flüchtlinge. »Mit den Jahren entschied ich mich, dass ich mit Kindern, die wie ich geflüchtet und ohne Eltern aufgewachsen waren, arbeiten möchte«, schreibt die 80-Jährige in ihren Er­innerungen. Das tat sie dann auch – bis zu ihrem 65. Lebensjahr unterrichtete sie Handarbeit in einem Heim. »Ich habe seitdem zahlreiche Pullis gestrickt, vor allem für Babys und Kinder – erst für meine eigenen, dann für meine Enkel.«

»Sie strickt heute fast blind«, sagt Dean. »Auf einem Auge kann sie schon nicht mehr sehen, dunkle Farben sind für sie deshalb schwer auseinanderzuhalten.« Vor allem nachts nehme sie ihre Stricknadeln gern in die Hand. »Sie kann oft nicht gut schlafen«, sagt der Enkel. Dabei singe sie oft russische Lieder, »die Reihen zählt sie auf Polnisch mit«.

Europa Ihre Strickwaren nun in Deutschland zu verkaufen, sei für ihre Großmutter ein besonderes Anliegen, so die Enkel. »Für sie ist das ein Symbol der Vergebung«, sagt Lihi. Bis heute erinnere sie sich an die Kälte in Europa und an ihren schweren Pelzmantel, der ihr als kleines Mädchen viel zu groß gewesen war. Kein Kind solle so frieren müssen wie sie damals. »Mit jedem Pulli verknüpfe ich Mitgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und bedingungslose Liebe für jedes menschliche Wesen«, schreibt Esther Prishkolnik.

Gern hätte sie die Reise nach Berlin mit angetreten, »aber aus gesundheitlichen Gründen geht das leider nicht mehr«, sagt Dean. Somit seien nun die Enkel für den Verkauf zuständig. »Ich hoffe, wir müssen nichts davon nach Israel wieder zurücknehmen«, sagt Lihi.

Über Facebook haben sie den kleinen Laden in Prenzlauer Berg ausfindig gemacht. »Als ich die Geschichte gehört habe, wollte ich meine Räume sofort zur Verfügung stellen«, sagt Inhaberin Nizana Brautmann. Für gewöhnlich berate sie dort Kunden zum Kauf von Immobilien. »Sie haben aus meinem Büro etwas wirklich Schönes gemacht.« Eine Frau nimmt ein hellblau-weiß gemustertes Jäckchen in die Hand, greift dann zum roten Pullover daneben. »Wirklich süß sieht das aus«, sagt sie begeistert. Sie zückt ihr Portemonnaie. Der erste Pulli ist verkauft.

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