Rottweil

Impfschutz für Daniel

Der Siebenjährige leidet an Muskelatrophie. Die Familie hofft auf ein Vakzin für Kinder

von Christine Schmitt  21.02.2021 13:30 Uhr

Vater Sergej Kamylin mit den Söhnen David (8, l.), Daniel (7, r.) und Aron (3) Foto: Privat

Der Siebenjährige leidet an Muskelatrophie. Die Familie hofft auf ein Vakzin für Kinder

von Christine Schmitt  21.02.2021 13:30 Uhr


Große Erleichterung bei der Familie Kamylin in Rottweil. Am vorvergangenen Samstag hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Covid-19-Impfstoff für Kinder ab Sommer in Aussicht gestellt. Das dürfte für die Familie die wichtigste Meldung der vergangenen Monate gewesen sein, denn ihr zweiter Sohn Daniel leidet an der sogenannten spinalen Muskelatrophie Typ 2, einer angeborenen Muskelschwäche. Seine Muskeln werden sich immer weiter zurückbilden. Deshalb sitzt er im Rollstuhl und ist auf Unterstützung im Alltag angewiesen.

Nach der erfreulichen Nachricht über den Impfstoff kam jedoch schnell der Dämpfer: Kaum eine Woche später vermeldete die »Tagesschau«, dass der Experte der Impfkommission, Fred Zapp, nicht daran glaubt, ein für Kinder geeignetes Vakzin schon so früh verimpfen zu können. Frühestens Ende des Jahres halte er dies für realistisch, sagt Zapp.

Dennoch ist es für die Kamylins ein Lichtblick, lange genug sah die Welt für die fünfköpfige Familie perspektivlos aus. Fast zwölf Monate Isolation hat sie hinter sich. Die Eltern können ihre Freunde nicht sehen, »aber da sie ebenfalls Kinder haben, hat auch kaum jemand Zeit«, sagt Vater Sergej Kamylin. Auch er könne seine eigenen Eltern nicht besuchen, da in deren Haushalten noch Angehörige leben, die allein schon vom Beruf her viele Kontakte haben. »Unsere Jungen vermissen ihre Großeltern.«

Einschränkungen David (8), Daniel (7) und Aron (3) müssen sich einschränken. Beim ersten Lockdown stand sofort fest, dass – bis auf die Mutter – alle zu Hause bleiben werden. Jelena Kamylin arbeitet als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft, während Sergej als Mitarbeiter eines Möbelhauses in Kurzarbeit geschickt wurde und sich somit um die Kinder kümmern kann. Die Kita für Daniel und seinen kleinen Bruder fiel damals aus, lediglich der Achtjährige bekam einmal die Woche eine oder zwei Stunden Einzelunterricht in seiner Schule. Da sein Bruder als Risikopatient gilt, sollte er sicherheitshalber keinen Kontakt mit den Klassenkameraden haben.

An Daniels Bedürfnisse aufgrund seiner Krankheit haben sich alle gewöhnt.


»Dieser Zustand ist anstrengend, zehrt an den Kräften und drückt aufs Gemüt«, sagt der Vater. Seine Stimme scheint die Aussage Lügen zu strafen: Am Telefon klingt er vergnügt, lacht gern. Seit der Diagnose für Daniel sind fünf Jahre vergangen. »An die besonderen Bedürfnisse haben wir uns gewöhnt, für uns gehören sie zum Alltag. Mit Gottes Hilfe schaffen wir das. Wir sind eine ganz normale Familie«, sagt Kamylin und atmet einmal tief durch. Nun werde es aber langsam zu viel.

Morgens stehen alle fünf früh auf, damit David und Daniel um 9 Uhr mit dem Homeschooling beginnen können. Im Herbst war Daniel Schüler einer Inklusionsschule. Acht Kinder sind insgesamt in seiner Klasse. Allerdings wurde er nach ein paar Tagen krank und blieb von da an zu Hause, obwohl er sehr gerne die Schule besuchen wollte, erzählt sein Vater. Aber die Zahl der Neuinfektionen ließ es nicht zu, zumal sich die Region um Rottweil zu einem Hotspot der Pandemie entwickelte.

Homeschooling Sergej lernt mit Daniel, Jelena mit David oder umgekehrt. So gehen die Morgenstunden dahin. Die Lehrer schicken dem Siebenjährigen Päckchen per Post, mehrmals in der Woche erhält er Online-Unterricht. »Das klappt gut, und er ist fix mit dem Tablet klargekommen«, erzählt sein Vater. David hingegen bekomme viele Arbeitsblätter per Post und weniger Online-Unterricht.

Gegen Mittag verabschiedet sich die Mutter zur Arbeit, denn sie hat immer Spätdienst. Die Nachmittage werden für Schulaufgaben genutzt, die am Vormittag nicht geschafft wurden, dann hat Daniel noch Therapien. Seine Krankengymnastik und die Ergotherapie finden in den Praxen statt, die Logopädie hingegen online. Zeit zum Spielen und Chillen bleibt am Nachmittag und abends.

Im ersten Lockdown war die Familie von März bis Mai komplett abgeschottet. Krankengymnastik war nicht möglich. Sergej Kamylin betreut Daniel bei seinen Übungen zu Hause und unterstützt ihn bei Bewegungen, die seine Muskeln nicht mehr zulassen. Er zieht seinen Sohn auch an und hilft ihm bei den Mahlzeiten. »Aber ich schaffe nun nicht mehr alles, manches bleibt im Haushalt liegen«, sagt der 35-Jährige. Lichtblicke sind in dieser Zeit, dass sie nun in der neuen barrierefreien Wohnung leben und Daniel mit seinem Rollstuhl überall hinfahren kann.

Mithilfe der Gemeinde konnten sie ein Auto anschaffen, in das der Rollstuhl hineinpasst.

Ebenso freut sich die Familie Kamylin über das Auto, das sie mithilfe einer Spendenaktion der Jüdischen Gemeinde Rottweil kaufen konnte. Es hat eine Rampe, sodass sie den Rollstuhl problemlos mitnehmen können. Im Sommer konnte die gesamte Familie Tagesausflüge ins Umland unternehmen. »Das war sehr schön.« Und zu Chanukka konnten sie nach Rottweil fahren und beim Anzünden der ersten Kerze – im Freien – dabei sein.

Zusammenbruch Alles schien sich damals zum Guten zu wenden. Doch dann Anfang Februar der Schock: Das Vakzin ist nicht für Kinder geeignet. »In diesem Moment fiel die Stimmung schlagartig«, bekennt Sergej Kamylin. Wie soll man so weiterleben? Wo ist die Perspektive?, fragten sich die Eltern. Alles muss dafür getan werden, dass Daniel geschützt bleibt – das stand fest. Außerdem ist nicht erwiesen, ob Geimpfte nicht doch noch andere anstecken können. Und dann sind da ja noch die zwei Brüder, die das Virus ja auch im schlimmsten Fall weitergeben könnten. Fragen und Ängste kamen wieder auf.

»Da sind oder waren wir an dem Punkt angelangt, dass wir beschlossen haben, unsere Jungs wieder in die Kita und die Schulen zu schicken, wenn sie aufmachen.« Die Eltern spürten die eigene psychische Belastung und fürchteten auch die der drei Söhne, die seit Wochen und Monaten keine Klassenkameraden oder Freunde treffen konnten und kaum noch soziale Kontakte haben. Natürlich würden sie achtgeben und auf ein gutes Hygienekonzept hoffen, aber weiter auf soziale Kontakte zu verzichten, sei kaum noch möglich.

Er selbst, sagt Sergej Kamylin mit einem Lachen, brauche nach Corona eine Reha. Wenn seine Frau nach 20 Uhr von der Arbeit nach Hause kommt, hatte er bis vor Kurzem noch die Möglichkeit, alleine einen Spaziergang zu machen. Aber das war dann wegen der Ausgangssperre, die Baden-Württemberg eine Zeit lang zwischen 20 und 5 Uhr verhängt hatte, auch nicht mehr möglich.

Die Familie sieht kaum noch Hoffnung. Kraft gebe jetzt nur noch die Aussicht auf einen Termin für den Kinder-Impfstoff. Wenn man wüsste, dass es ihn in absehbarer Zeit gäbe, könnte man vielleicht noch ein paar Wochen derart isoliert durchhalten. Doch nach der Erkenntnis, dass Kinder weiter auf einen geeigneten Impfstoff warten müssen, sind die Eltern deprimiert.

Geburtstag »Wenn ich David frage, was er sich wünscht, dann sagt er, dass er Corona wegzaubern möchte.« Daniel würde er als gefasster bezeichnen. Allerdings träumt der Siebenjährige davon, seinen Geburtstag mit Familie und Freunden, also mit vielen Menschen, feiern zu können. Im vergangenen Oktober fiel die Party aus. »Ich habe ihm dann gesagt, dass ich es nicht versprechen kann, ob das klappt«, sagt Sergej Kamylin. »Die Achterbahnfahrt geht nun weiter.«

Unterstützung kommt von der Gemeinde. »Da Daniel immer wieder Therapien und Hilfsmittel brauchen wird, die von keiner Kasse finanziert werden, sammeln wir weiter Spenden für die Familie«, sagt Geschäftsführerin Tatjana Malafy.

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