Jubiläum

Im Zeitenwandel

Seit es in München das Gemeindezentrum am Jakobsplatz gibt, steht genügend Raum für den alljährlichen Neujahrsempfang der Gemeindemitglieder zur Verfügung. Der Moderator Guy Fränkel begrüßte am Sonntag nach Jom Kippur mehrere hundert Gäste, die mit einem Rückblick auf die Zeit nach der Schoa, zur Unterhaltung und vor allem zu einem geselligen Miteinander zusammengekommen waren. An die Wände des Hubert-Burda-Saales waren Bilder projiziert, auf denen die Gemeindemitglieder die Entwicklung der IKG seit ihrer Wiedergründung nach der Schoa verfolgen konnten. Denn beim diesjährigen Neujahrsfest wurde zugleich das 65-jährige Bestehen der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern nach dem Krieg gefeiert.

Bewusstsein Zunächst wünschte Präsidentin Charlotte Knobloch allen »Schana towa, ein schönes, gebenschtes Jahr«, in dem, wie sie hoffe, »alle Ihre Wünsche in Erfüllung gehen«. Einer der großen Wünsche der Präsidentin, den sie über Jahrzehnte hegte und mit viel Tatkraft zur Umsetzung geführt hatte, war mit dem neuen Gemeindezentrum in Erfüllung gegangen. Und so lud sie die Anwesenden ein, mit ihr einen Blick auf die im Hintergrund laufenden Bilder zu werfen, auf eine Zeitreise zu gehen auf dem Weg »zu jenem Ort, an dem wir bereits sind. Wir erhalten ein Geschenk: das Bewusstsein dessen, was wir bereits haben. So sind wir heute auch zusammengekommen, um das 65. Gründungsjubiläum unserer Gemeinde zu feiern.«

Sie bezeichnete das Erreichte als ein Wunder und skizzierte den Weg: »Vor 65 Jahren standen die jüdischen Menschen, Überlebende der Schoa, denen in diesem Land alles genommen wurde – ihre Würde, ihr Grund und Gut, ihre Liebsten – vor der wohl schwierigsten Entscheidung ihres Lebens: Der historischen Entscheidung, ob das deutsche Judentum am Ende doch noch nachträglich gegenüber Angst, Hass und Wahn kapitulieren sollte. Oder ob man diesem Land und seinen Menschen noch eine zweite Chance geben sollte. So eindeutig und eindringlich die ausländischen jüdischen Organisationen zum Auszug aus Deutschland aufriefen, so zerrissen waren die Herzen der deutschen Juden.

Siegfried Neuland, mein Vater sel. A., beispielsweise war fest entschlossen: Er wollte den Gedanken, im sogenannten Land der Mörder zu leben, aushalten. Am 19. Juli 1945, also unglaubliche zwei Monate nach Kriegsende, gründeten er und 104 weitere Münchner Juden unsere Kultusgemeinde.« Trotz aller Schwierigkeiten sei über allem der unbedingte Wille gestanden, die Kontinuität jüdischen Lebens hier in der bayerischen Diaspora zu bewahren. Sie selbst hatte 1945 »den sprichwörtlichen gepackten Koffer noch im Schrank«, folgte der Richtung des Vaters nur widerwillig. Aber, so Charlotte Knobloch weiter, »mit den Jahren steckte er mich an mit seiner unbeirrbaren Zuversicht«. Und diese führte über Jahrzehnte zu neuem jüdischen Leben in München.

Symbol Die Präsidentin stellte bei dem Neujahrsempfang fest: »Heute, 65 Jahre später, haben wir bereits zum vierten Mal die Hohen Feiertage in der Ohel-Jakob-Synagoge begangen. An dem Tag, da wir den Grundstein zu ihrem Bau in die Erde einbrachten, an jenem Tag habe ich gewusst, was ich zuvor nur hoffen konnte: Es war richtig zu bleiben. Es war richtig zu vertrauen – in dieses Land, seine Politik und seine Menschen. Am Abend dieses Tages packte ich meinen Koffer aus. Dieser Ort hier, im Herzen meiner Heimat, ist für mich persönlich das Symbol der Heimkehr jüdischen Lebens nach Deutschland. Ein Leben, das mehr ist als Existenz, mehr als Überleben – ein Leben als fester, selbstverständlicher, selbstbewusster und anerkannter Bestandteil der Gesellschaft. Deutschland ist uns Juden wieder eine Heimat, in der wir lebensbejahend unsere Zukunft planen.«

Osteuropa Auf die Entwicklung des jüdischen Lebens in Deutschland in diesen 65 Jahren ging Dan Diner bei seinem Festvortrag ein. Der gebürtige Müchner lebt heute in Deutschland und Israel, ist Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er erinnerte an die großen Orte der jüdischen Geschichte in Europa wie Worms, Prag, Smirna oder Odessa: Nach 1945 habe sich jüdisches Leben dann zunächst auf München konzentriert. Diese Stadt und Bayern als amerikanische Besatzungszone wurde nach der Schoa bis in die frühen 50er-Jahre ein ganz besonderer Ort für die Geschichte der Juden. Es waren etwa fünf Jahre, in denen die Überlebenden der Schoa, vorwiegend aus Osteuropa, die DPs, Displaced Persons, sich in und um München sammelten, um von hier aus nach Israel oder Übersee zu gehen.

Entwicklung Mit der Auflösung des Israelischen Konsulats in München Anfang der 50er-Jahre habe München diese besondere Stellung dann aber verloren. Entsprechend der politischen Bedeutung der deutschen Städte und der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik wird Frankfurt die Wirtschaftsmetropole Deutschlands. Dort wird 1950 der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Auch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland verlegt ihren Sitz aus Hamburg dorthin. Der nächste Schritt im Wandel der Schwerpunkte jüdischen Lebens folgt nach dem Fall der Mauer zu Osteuropa: Berlin wird Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland. Auch die jüdischen Organisationen verlassen Frankfurt und Bonn, um nach Berlin zu gehen. Charlotte Knobloch bezeichnete es als ein Paradoxon, dass »ausgerechnet Deutschland ersehnter Zufluchtsort für viele tausend jüdische Menschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion« wurde. Erst ihre Ankunft habe quer durch die Bundesrepublik den Samen eines vitalen, zukunftsfähigen Judentums gelegt.

Sie richtete einen besorgten Blick auf die immer offener sinkenden Hemmschwellen für antisemitische und israelfeindliche Äußerungen und Aktionen. An diesem Abend jedoch stand das positive Miteinander im Mittelpunkt. Bei israelischen Speisen aus dem Gemeinderestaurant Einstein trugen die Stehtische zum Gespräch unter wechselnden Personengruppen bei. Die Musik der Klesmerband des Jugendzentrums der IKG begeisterte alle und lockte viele zum spontanen Tanzen vor die Bühne – und das sicherlich nicht nur angeregt von den Choreografien des Balletts Genesis. Der Sänger Yoed Sorek begeisterte zudem alle mit Liedern wie zum Beispiel »Der Rebbe Eli Melech«.

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