Krieg

»Ich weiß nicht, was morgen kommt«

Um sechs Uhr weckte mich mein Mann, und sagte, dass die Ukraine angegriffen wird. Ich habe erst einmal meine Mutter angerufen, und sie hat mir erzählt, dass sie Explosionen hört. Ich war perplex. Ich habe Angst um sie. Vor Wochen habe ich ihr schon gesagt, dass sie herkommen soll. Sie hat eine Arbeitserlaubnis für Deutschland. Aber sie meinte, dass sie jetzt da sein müsste – mehr als je zuvor. Sie bleibt in der Ukraine, in ihrem Land, wie auch alle ihre Freunde. Sie wollen nicht fliehen. Ich mache mir große Sorgen um sie, aber ich finde es auch sehr vorbildlich, dass sie sich so entschieden hat. Ich hoffe, dass das russische Volk auch anfängt, dagegen etwas zu tun, dass es Bürgerinitiative zeigt, auf die Straßen geht, dagegen spricht. Ich weiß nicht, was die Lösung ist. Ich weiß nicht, was morgen kommt, und diese Unwissenheit ist sehr schwer. Man kann nicht vorhersagen, was Putin als Nächstes tut. Ich kann nicht sagen, was Deutschland, die USA oder die Ukraine machen sollen. Ich traue dem jetzigen ukrainischen Präsidenten, dass er den richtigen Weg findet.
Tascha, Berlin (Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt)


Der Konflikt in der Ostukraine schwelt seit Jahren. Einfache Menschen waren und bleiben Geiseln einer kurzsichtigen und menschenverachtenden Politik. Von zivilen Opfern oder dem Tod von Militärangehörigen zu hören, ist unerträglich schmerzhaft. Dieser Schmerz betrifft nicht nur Familien aus der Ukraine, sondern auch Familien aus Russland, die manchmal nicht nur durch freundschaftliche, sondern auch durch familiäre Bindungen miteinander vermischt sind. Dies gilt für fast alle Mitglieder, Männer und Frauen, unserer Gemeinde. Wir beten um Frieden für alle, die von diesem Krieg betroffen sind. Wir beten für unsere Glaubensschwestern und Glaubensbrüder dort, die sich unwissentlich auf gegenüberliegenden Seiten der Barrikaden wiederfinden! Wir beten, dass die Weltpolitik genug Verstand und Kraft hat, um die Konfliktparteien wieder an den Tisch effektiver Verhandlungen zu bringen. Das Einzige, was die Menschheit braucht, ist Frieden und das Glück der Kinder!
Küf Kaufmann, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig und Autor, Leipzig


Meine Kiewer Freunde retten sich in die Metro, die Stadt wurde bombardiert, die Kollegen in Charkiw, Dichter und Musiker, sind untergetaucht. Sie stehen auf den »Entsorgungslisten der Russlandfeinde«, solche Papiere werden angeblich von den russischen Geheimdiensten fertiggestellt, gleich nach der Machtübernahme sollen die »Feinde« interniert und erledigt werden. Wie kann Europa diesen Menschen helfen? Eine militärische Auseinandersetzung mit einer Atommacht kommt nicht infrage. Wir haben auch sonst jede Menge zu tun. Wir müssen Corona bekämpfen und den CO2-Ausstoß reduzieren. Wir wollen lieber gegen den Klimawandel kämpfen und nicht gegen einen geistig behinderten Tyrannen aus dem vorigen Jahrhundert. Das stehe gar nicht auf unserer Tagesordnung, sagte die deutsche Außenministerin, und der Kanzler hat ihr zugestimmt. Aber wir müssen trotzdem etwas tun. Liebe Eltern, schrieb die Grundschule in Prenzlauer Berg in einer Rundmail, wir sind geschockt und können nicht tatenlos zusehen, wie der Frieden in Europa gefährdet wird. Wir müssen uns für den Frieden einsetzen! Zu diesem Zweck wollen wir Bettlaken und großformatige Stoffe bemalen und am Schulgebäude aushängen. Unterstützen Sie unsere Aktion! Ähnliche Aufrufe erwarte ich demnächst von der UNO, der Weltbank und dem Weltsicherheitsrat, die Bettlaken müssen helfen.
Wladimir Kaminer, Autor, Berlin


Seit acht Jahren leben Menschen in der Ukraine im Schatten einer schwelenden militärischen Bedrohung. Gleichwohl scheint selbst für die ukrainische Gesellschaft ein solcher Angriffskrieg eine nicht in diesem Maße antizipierte Entwicklung zu sein. Menschen, die heute in der Ukraine leben, haben ein Nachgedächtnis eines großen Krieges. In vielen, jüdischen wie auch nichtjüdischen, Familiengeschichten sind die Kriegsrealitäten und Kriegsfolgen omnipräsent. Dieser Angriff ist nicht nur eine akute, verheerende Bedrohung für einen jeden Einzelnen und die gesamte ukrainische Gesellschaft, sondern er legt sich auf die vergangen geglaubten Wunden und erweckt sie zu neuem Leben. Wie jeder Krieg ist auch diese Invasion eine historische Erfahrung eines extremen Ausmaßes. Er ritzt sich jetzt schon ins Gedächtnis des Landes ein und wird zu einer Zäsur. Im Land selbst gibt es starke Kräfte, die unsere Unterstützung brauchen. In den Jahren des Konflikts ist die ukrainische Zivilgesellschaft nicht nur gewachsen, sondern sie hat sich diversifiziert und international vernetzt. Auch jetzt sind die Aktivitäten ukrainischer NGOs die tragende Säule der sozialen Arbeit und zivilen Unterstützung. Wir sollten sie mit allen Kräften unterstützen.
Marina Chernivsky, Psychologin, Geschäftsführerin OFEK e.V., Berlin


Ich bin in der Ukraine geboren und habe dort die ersten acht Jahre meines Lebens verbracht. Meine Vorfahren, soweit ich meinen Stammbaum ins 19. Jahrhundert verfolgen kann, stammen aus der Ukraine. Obwohl ich dieses Land kaum kenne, seine Sprache nicht spreche und bereits 25 Jahre in Deutschland lebe, bin ich dennoch berührt von dem Einmarsch Russlands. Mich betrübt die Sorge um entfernte Verwandte, die Hilflosigkeit des Landes gegenüber einer Übermacht, gegenüber Menschen, »die Böses im Herzen ersinnen, die allezeit Krieg anzetteln« (Ps. 140,3). Möge der Ewige allen Kriegen Einhalt gebieten und alle Völker der Erde mit Frieden segnen.
Igor Itkin, Rabbiner, Berlin


Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viele solidarische Worte, gute Gedanken und Mitgefühl von Freunden und Kollegen hier in Deutschland erfahren habe. Ich bin überwältigt und dankbar für die klare politische Haltung so vieler Menschen, die das schamlose, lügenhafte, grausame Verhalten Russlands verurteilen, auch und vor allem in diesen ersten Tagen des Krieges gegen die Ukraine. Auf die Frage, was dieser militärische Überfall Russlands auf ein modernes, demokratisches Nachbarland wie die Ukraine für die Zukunft Europas bedeutet, kann ich mich im Moment noch nicht einlassen. Das Nachdenken darüber fällt schwer. Ich bin in Gedanken bei meiner Familie und Freunden, die gerade in der Ukraine festsitzen, zu Hause in Jacken und mit gepackten Rucksäcken, jederzeit bereit, ihre Wohnungen zu verlassen. Oder in den U-Bahn-Stationen, wo sie vor den fallenden Bomben geschützt sind. Es kommt eine humanitäre Katastrophe auf uns zu, mitten in Europa. Auch nicht nur deshalb geht der ausgebrochene Krieg in der Ukraine uns in Deutschland so nah. Knapp 50 Prozent aller Mitglieder jüdischer Communitys, die in Deutschland leben, haben ukrainische Biografien. Entweder sie selbst oder ihre Eltern sind dort geboren, sie sind mit ihrem Heimatland durch Familie oder Freunde immer noch eng verbunden. Ich wünsche mir deshalb angesichts der militärischen Aggression Russlands eine klare Haltung zu Demokratie von Institutionen, die den Fokus ihrer Arbeit auf jüdische Themen und jüdische Menschen legen.
Alina Gromova, Autorin, Berlin


In diesem Winter verbrachte ich mehrere Wochen in Kiew, einer Stadt, die ich gut kenne und liebe. Ich bin erst vor drei Wochen zurück nach Berlin gekommen, und meine Gedanken sind natürlich in erster Linie bei den vielen Freunden, Kollegen und Bekannten, die dort jetzt Angst um ihr Leben haben. Ich hoffe sehr, dass die Kriegshandlungen sehr bald aufhören! Vor 25 Jahren prägte der berühmte amerikanische Geostratege Zbigniew Brzezinski den Ausdruck »The Grand Chessboard«, mit dem er in seinem gleichnamigen Buch Eurasien bezeichnete – auf diesem »großen Schachbrett« sollten die USA ihre Vorherrschaft als »die einzige Weltmacht« (so hieß die deutsche Übersetzung des Buches) durchsetzen. Nach Brzezinski hätte die Ukraine eine Schlüsselbedeutung in diesem »Spiel«. Ich finde das Denken solcher Art, das heute die Politik gleichermaßen in Washington, Moskau, London oder Brüssel bestimmt, menschenverachtend: Es geht doch nicht um Schachfiguren, die geschlagen oder geopfert werden, sondern um ganze Länder, die in Chaos und Gewalt versinken, und um Millionen von Menschen, die wegen diverser Großmachtfantasien leiden und sterben müssen.
Jascha Nemtsov, Musiker, Berlin


Ab 2010 lebte ich als Lehrer und Sozialarbeiter für vier Jahre in der Ukraine. In Kiew, wo ich mit meiner Arbeit die Jüdische Gemeinde vor Ort unterstützte, konnte ich die Proteste auf dem Maidan erleben. Wie alle, die dort waren, war ich ergriffen von der Hoffnung auf Demokratie und Freiheit. Diese Hoffnung ist nun leider tiefer Sorge und Angst um dieses Land gewichen, das mir so viel bedeutet. Viele meiner ehemaligen Schüler stehen in diesem Moment als Soldaten an der Frontlinie. Dass ihr Leben nun auf dem Spiel steht, macht mich fassungslos. Ich bete und hoffe, dass es eine Wende zum Guten geben wird. Doch das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht überwiegt.
Rabbiner Jeremy Borovitz, Co-Leiter von Hillel Deutschland in Berlin

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