Porträt der Woche

»Ich überwachte den KGB«

»Sie bleibt wie ich immer in der Wohnung«: Eduard Dvorkind mit seiner Siamkatze Manja Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

»Ich überwachte den KGB«

Eduard Dvorkind ist 101 Jahre alt. Früher arbeitete er bei der Staatsanwaltschaft

von Katrin Diehl  10.01.2012 11:51 Uhr

Ich bin 101 Jahre alt. Im April werde ich 102. Es könnte gut sein, dass ich das älteste Mitglied der Gemeinde in München bin, jedenfalls kenne ich kein älteres. Als ich 95 Jahre alt wurde, später dann 100, 101 bekam ich Post vom Bundespräsidenten, vom Münchner Oberbürgermeister und auch von der Gemeinde. Das hiesige »Wochenblatt« brachte ein Foto. Ich stehe da neben dem Stadtrat, der mir gratuliert.

So etwas macht mich stolz. Ich habe die schönen Briefe und Papiere alle in einem Ordner. Ich kann sie jedem zeigen. Jedem, der Zeit hat. Alle Briefe stecken noch in ihren Kuverts und die wiederum in einer Klarsichtfolie. Meinen 100. Geburtstag haben wir in einem Restaurant gefeiert, nicht weit von hier, auch Verwandtschaft aus Frankreich kam angereist. Wie ich den 102. feiern werde? Das weiß ich noch nicht.

Bushaltestelle Seit einigen Jahren gehe ich kaum mehr hinaus. Ich bin zu schwach. Ich habe keinen Kontakt zu anderen. Darunter leide ich. Als wir Ende 1999 aus Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan, hierher nach Deutschland kam, bin ich die ersten Monate oft zur nächsten Bushaltestelle gegangen und habe mich dort hingesetzt. Ich saß einfach dort.

Bis zum Mittag. Und wenn mich Leute ansprachen, habe ich gesagt: »Entschuldigen Sie, aber ich spreche kein Deutsch.« Einkaufen war ich in Deutschland noch nie. Was kann ich also sagen? Das Klima ist in Ordnung. Ja, das ist in Ordnung.

In meiner Wohnung im sechsten Stock über dem Penny-Markt leben mit mir meine Tochter Ludmila, mein Schwiegersohn Grigori und die Katze Manja. Sie ist eine Siamkatze, ein so gutes, liebes Tier. Sie bleibt wie ich immer in der Wohnung. In Taschkent hatten wir auch eine Katze. Wir durften sie nicht mitnehmen. Da gab es natürlich Tränen. Ludmila hat viel geweint.

Familie Ludmila versorgt mich. In Usbekistan war sie eine wichtige Ärztin und Grigori ein Dozent an einem medizinischen Institut. Jetzt sind sie beide auch schon über 70. Gar nicht weit von hier wohnt meine Enkelin. Sie ist Doktorandin an der Technischen Universität. Einen Enkel habe ich auch, in Israel. Er heißt Ilja wie mein Vater und ist selbst bereits Vater einer Tochter. Ich bin also auch Urgroßvater. In Israel war ich noch nie. Das schaffe ich nicht mehr. Aber hier, über dem Sofa, da auf dem Bild, das silbern glänzende, das ist die Klagemauer.

Morgens stehe ich um sieben auf. Um acht trinke ich Kaffee. Eine Tasse. Nichts dazu. Mehr brauche ich nicht. Um zwölf Uhr esse ich zu Mittag, kein Fleisch, nichts Gebratenes. Das bekommt mir nicht. Ich mag Milchsuppe oder etwas Ähnliches. Dann halte ich einen kleinen Mittagsschlaf, und um fünf Uhr gibt es Abendessen. Wieder etwas Leichtes, einen Milchbrei, ein Ei. Ludmila sorgt für alles. Später schaue ich mir die russischen Nachrichten aus Moskau an.

Politik interessiert mich, weil ich nach meinem Jurastudium in Leningrad beruflich immer damit verbunden war. Was Putin und Medwedew machen, gefällt mir nicht. Sie zeigen sich ständig, reden viel, aber was steckt dahinter? Nichts. Um halb elf jedenfalls gehe ich zu Bett. Da macht auch mein Schwiegersohn das Licht aus.

Bier Im Schlaf wälze ich oft Ordner und denke über Fälle nach, mit denen ich in Taschkent befasst war. Vielleicht ist das mein Rezept fürs Altwerden: Arbeiten, arbeiten, arbeiten, kein Bier trinken und keinen Sport treiben. So jedenfalls habe ich gelebt.

In Usbekistan ist einmal ein Artikel über mich in der Zeitung erschienen mit dem Titel »Besessen«. Gemeint war: besessen von der Arbeit. Egal ob Feiertag oder Ferien, ich habe immer gearbeitet. Sogar an meinen Geburtstagen. Waren alle Gäste da, habe ich mich kurz blicken lassen und bin dann wieder zur Arbeit gegangen. Mit 60 Jahren hätte Schluss sein können, aber ich habe erst aufgehört, als ich fast 90 war.

Ich habe bei der Staatsanwaltschaft in Taschkent gearbeitet. Eigentlich war ich der Staatsanwalt von Taschkent. Eigentlich. Aber als Jude musste ich natürlich immer jemanden über mir haben. Ich habe den KGB überwacht. Die Staatsanwaltschaft war der russischen Republik untergeordnet und musste Rechenschaft ablegen auch über die Tätigkeit des Geheimdienstes.

Dass ich überhaupt so weit nach oben kommen konnte, lag auch daran, dass ich den Usbeken um mich herum, die nicht so gut ausgebildet waren wie ich, immer kostenlos geholfen habe.

Rabbiner Damals in Taschkent habe ich manchmal auch unseren Rabbiner beraten. Seinen Namen habe ich vergessen, er war ein guter Freund, hat Krapfen gebracht zu Chanukka und uns zu den Festen eingeladen. Für uns gab es Ehrenplätze. Dieser Rabbiner kam also zu mir und brauchte meinen Rat, wenn es um Rechtsfälle ging, in die Juden verwickelt waren.

Später dann, nach 1991, als Usbekistan selbstständig geworden war, hatte ich engen Kontakt zum deutschen Generalkonsul. Meine Kenntnisse waren für ihn wichtig. Der Konsul steckte mir ein Buch auf Russisch zu mit Informationen für Juden, die nach Deutschland auswandern wollen. Darin stand zu lesen, dass sie dort eine Wohnung bekämen und Lebensunterhalt und all das. Das Büchlein habe ich immer noch.

Religiös waren wir nicht und sind es auch nicht. Wir feiern Pessach, und meine Enkelin und ihr Mann spenden immer Geld für einen Baum in Israel.

Meine Frau Tatjana ist 1995 gestorben, da waren wir noch in Taschkent. Sie war Ukrainerin, hochadelig. Ihr Vater, ein Arzt, war während des Ersten Weltkriegs mit dem Zug unterwegs. Da fiel eine Bombe, und er kam ums Leben. Tatjana und ich waren 57 Jahre miteinander verheiratet. Sie war eine schöne Frau. Ob ich mein hohes Alter in den Genen trage? Ich weiß es nicht, denn mein Vater und meine Mutter wurden von den Faschisten erschossen. Vater war damals 61 Jahre alt, Mutter 57.

Lesen In meinem Zimmer stehen ein Bett und ein Sessel. Vor Kurzem bin ich so unglücklich aus dem Sessel aufgestanden, dass ich mit dem Kopf gegen den Heizkörper gefallen bin. Meine Beine und mein Rücken sind schwach. Ich gehe am Stock – wo ich doch früher nie krank gewesen bin. Nie! Aber was noch wunderbar funktioniert, sind meine Augen. Ich lese, lese, lese, mal mit, mal ohne Brille.

Ludmila und Grigori bringen mir Bücher aus der Gemeindebibliothek mit: Krimis, historische Romane, Detektivgeschichten. Ich bin auch Leser in der Tolstoi- Bibliothek. Da kenne ich aber schon alles. Außerdem lese ich sämtliche russische Zeitungen, an die ich komme. Am meisten freue ich mich auf die russisch-jüdische Zeitung.

Die macht mich glücklich. Sie erscheint einmal im Monat. Kurz bevor es wieder so weit ist, werde ich ganz ungeduldig und sage immer wieder zu meinem Schwiegersohn: »Jetzt fahr doch endlich los und kauf sie!« Musik gefällt mir auch, besonders Gesang. Ich höre genau, ob jemand singen kann oder nicht. Wenn einer keine Stimme hat, schalte ich mein Hörgerät aus.

Alle sagen, jetzt, wo ich pensioniert bin, solle ich mich ausruhen und entspannen. Ich würde aber lieber arbeiten. Arbeit war mein Leben. Wenn ich Deutsch könnte, würde ich morgen hier zur Staatsanwaltschaft gehen und fragen, ob ich dort anfangen kann.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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