Porträt

»Ich sammele Biografien«

Alexander Trinker war Ingenieur und erforscht seine Familiengeschichte

von Matilda Jordanova-Duda  05.12.2016 18:58 Uhr

Seine Familientafel ist schon einen Meter lang, 450 Angehörige hat er gefunden: Alexander Trinker (69) Foto: Jörn Neumann

Alexander Trinker war Ingenieur und erforscht seine Familiengeschichte

von Matilda Jordanova-Duda  05.12.2016 18:58 Uhr

Um fünf Uhr 30 fährt meine Tochter zur Arbeit. Obwohl sie weit entfernt wohnt und ich als Rentner alle Zeit der Welt habe, wache ich zu dieser frühen Stunde auf und mache mir Sorgen um sie. Am liebsten würde ich in einem Hubschrauber über ihrem Weg kreisen. Ich sorge mich auch um meinen Sohn und die zwei Enkel. Und um die anderen Menschen. In der internationalen Politik sieht es schlimm aus. Wozu das alles führen kann – ich weiß es nicht. Fragen Sie mal die Politiker, egal welche: »Habt ihr die Geschichte gelesen? Erzählt!«

Obwohl ich von Beruf Ingenieur bin, galt mein Interesse immer der Geschichte. Meine Vorfahren lebten, bekamen Kinder und zogen sie in verschiedenen europäischen Ländern groß. Ich bin 1947 in Moskau geboren. Mein Familienname Trinker stammt aus Österreich, die Familie meiner Mutter lebte früher in Polen. Während der letzten 20 Jahre haben meine Cousine Julia, die in New York lebt, und ich die Geschichte unserer Familie seit dem 19. Jahrhundert erforscht. Mithilfe des Computerprogramms »MyHeritage« haben wir sehr viele Bilder und Dokumente zusammengetragen.

Wir haben die Verwandten in Israel, den USA, Frankreich, Russland und der Ukraine kontaktiert. Julia hat sich des amerikanischen Zweigs angenommen und ich des europäischen. Wir haben jeden Einzelnen belästigt, bis er uns die Informationen geschickt hat. Es ist doch sehr wichtig, in Kontakt zu bleiben! Wir interessieren uns für das Leben der Verwandten, und sie fragen nach unserem. Über Skype geht das heutzutage viel einfacher und billiger. Wir wollen, dass sie ihre Wurzeln kennen. Vielleicht sagt das auch etwas darüber aus, was sie in Zukunft erwartet. Wenn man die Geschichte kennt, ist es auch heute leichter zu überleben, denke ich.

Wenn man die ganze Familie mit all ihren Verzweigungen zusammenzählt, stammen 450 Menschen von unserem Ururgroßvater Schaja und seiner Frau Chaja ab. Der Stammbaum ist jetzt ungefähr einen Meter lang. Wir haben ihn allen geschickt, die noch am Leben sind. In 20 Jahren Arbeit sind bereits 30 Menschen verstorben. Die ganze Verwandtschaft zusammenzubringen, ist nicht einfach, aber einige besuchen wir.

Hula-hoop An meinen Urgroßvater Leib erinnere ich mich gut. Er war Assistent des Rabbiners der Zentralsynagoge von Moskau. Leib hatte sechs Söhne und zwei Töchter. Mir als seinem ersten Urenkel hat er eine Tora geschenkt, die 1914 in Wilna herausgegeben wurde. Auch die ersten Kenntnisse über die Religion verdanke ich ihm. Zu jedem Pessachfest ging ich zu Urgroßvater in die Synagoge, um kiloweise Mazze zu kaufen.

Mit Uropa habe ich viel geredet. Mit wem auch sonst? Opa starb bald nach dem Krieg, und mein Vater war selten da. Entweder war er auf der Arbeit oder auf Dienstreisen – als berühmter Bauingenieur bereiste er die ganze Sowjetunion und andere Länder. Uropa besuchte Mutter und mich oft und war immer auf dem Laufenden, nicht nur, was Politik, sondern auch, was Trends betraf. »Ida, hast du Sascha schon einen Hula-Hoop-Reifen gekauft?«, fragte er einmal meine Mama. In der Synagoge hatte er gehört, dass alle Enkel angeblich schon einen hatten.

vorbild Ich bin Ingenieur wie mein Vater geworden. Er war ein Leben lang mein Vorbild. Mein Vater Boris Trinker war Chemiker und hat Beton-Komponenten entwickelt, die das Baumaterial außerordentlich robust und langlebig machen. Mit diesem Beton wurde unter anderem der Moskauer Fernsehturm »Ostankino« gebaut. Bis Ende der 70er-Jahre war er mit rund 540 Metern das höchste Gebäude der Welt, in Europa ist er es noch immer.

Sonntags saß mein Vater zu Hause am Küchentisch und schrieb Berichte, Artikel, Bücher, Projektbeschreibungen. Er war durch und durch Wissenschaftler und saß immer an seiner Arbeit. Als Junge schämte ich mich: »Papa arbeitet – und ich? Bin ich denn ein Dummkopf?« Ich setzte mich also hin und schrieb auch etwas. Im Alter von 27 Jahren quetschte ich einmal einen Artikel aus mir heraus und gab ihn Vater zum Lesen. Der Text war holprig. Papa hob die Augenbrauen und fragte: »In welcher Sprache hast du denn geschrieben?«

Nach Vaters Tod fühlte ich mich traurig und irgendwie verletzt. An wem sollte ich mich nun orientieren? Damals, wir lebten schon in Köln, begann ich, ein Thema in der Synagoge anzuschieben, das mir am Herzen lag. Es hatte – ausgerechnet – mit Schreiben zu tun: ein »Buch des Gedächtnisses«. Natürlich hatte ich Gleichgesinnte, sonst hätten wir es nie geschafft, es herauszubringen. Es erschien 2009 und ist dem Leben einiger bemerkenswerter Gemeindemitglieder gewidmet. Leider gibt es den Band nur auf Russisch. Auch ich habe ein Kapitel beigesteuert – über meinen Vater und seine Kriegserlebnisse.

biografien
Alle Männer meiner Familie waren im Zweiten Weltkrieg an der Front. Der älteste Onkel Anatolij wurde Offizier in der Artillerie und fiel schon 1941 bei der Verteidigung von Kiew. Auch sein Bruder Alexander fiel in Polen, Semjon bei Leningrad. Onkel Abram hat sechs Jahre gekämpft. Er war Panzerführer und wäre fast in seinem Panzer verbrannt. Anatolijs Sohn Viktor hat sich der Armee angeschlossen, obwohl er erst 13 Jahre alt war. Der Junge wurde Späher und kam 1945 zurück, die ganze Brust voll mit Medaillen. Er lebt heute noch in St. Petersburg.

Mein Vater wurde schon 1939 eingezogen, obwohl er damals in Chemie promovierte. Als guter Sportler und Skiläufer kämpfte er zunächst in Karelien. Vier Jahre hat er in der ewigen Kälte am Nordpol ausgeharrt, zog sich Erfrierungen an Händen und Füßen zu. Es gab nicht einen einzigen Tag Urlaub. Ich verstehe nicht, wie er das alles ertragen konnte. Er hat den ganzen Krieg mitgemacht und wurde dabei schwer verwundet. Vater hat geholfen, Rumänien, Ungarn und Österreich vom Nationalsozialismus zu befreien und damit auch weitere Schoa-Opfer zu verhindern. Erst 1945 kam er zurück und arbeitete weiter an seiner Promotion.

Erbe Mir war schon sehr früh klar, dass man die Geschichte bewahren muss, um sie weiterzugeben – von den Ältesten zu den Jüngsten wird nicht nur Wissen übertragen, sondern auch Erfahrungen, Kommunikation. Das ist sehr wichtig. Die Ingenieurswissenschaften sind nicht für jeden spannend. Ja, es gibt spezielle Ausrüstungen für den Bau unter der Erde oder unter Wasser, na und? Aber die Geschichte ist etwas anderes. Jeder muss die Geschichte kennen, zumindest die Geschichte seiner Familie.

Ich sammele aber nicht nur die Biografien meiner Verwandten. Mich haben auch schon immer Wissenschaftler interessiert. So habe ich nach meinem Ingenieurstudium einen zweijährigen Abendstudiengang in Philosophie absolviert. Ich wollte die Grundlagen kennenlernen, angefangen bei der Antike. Geschichte und Philosophie haben viel gemeinsam. Jeder Philosoph lebte schließlich in einer bestimmten Zeit und beschrieb sie – so wie etwa Josephus Flavius, der die Zeit der Zweiten Tempelzerstörung beschrieb.

Flavius hatte ein sehr langes Leben, schrieb einzigartige Bücher und war ein geachteter römischer Bürger. Vielleicht hat er auf dem Forum Romanum geredet. Mein Lieblingsautor Lion Feuchtwanger hat sein Leben in der Josephus-Trilogie beschrieben. Als ich mit meiner Familie Rom und das Forum Romanum besuchte, stellte ich mir vor: Vielleicht ist mein Urahn über diese Steine gegangen. Vielleicht schleppte man ihn als Gefangenen herbei, vielleicht ritt er als General ein, wer weiß? Das Römische Reich war ja sehr international. Ich würde gern einmal an einem historischen Film teilnehmen. Würde doch Spielberg einen Film über meine Vorfahren drehen!

klub Wenn man die Geschichte betrachtet, gibt es kaum eine Periode des Friedens. In 5000 Jahren findet man vielleicht zusammengerechnet 300 friedliche Jahre. Ich verstehe nicht, wie die Juden überhaupt überleben konnten. Man hätte sie schon zu der Zeit der Jüdischen Kriege um ein Haar vollständig ausgelöscht.

Als Rentner habe ich viel Zeit und versuche deshalb, mehr zu lernen. Im Gemeindezentrum Chorweiler hat sich vor einiger Zeit ein Klub gegründet. Zweimal die Woche kommen wir zum Gebet zusammen und besprechen danach den jeweiligen Toraabschnitt. Leider haben wir keinen Rabbiner. Früher gab es zwei mit befristeten Verträgen, junge Kerle, aber exzellent. Einige unserer Mitglieder – alle aus der ehemaligen Sowjetunion – können Hebräisch ein wenig lesen. Ich lese, wie die meisten von uns, die Tora auf Russisch.

Ich habe auch die Bibel und den Koran gelesen: Die handelnden Hauptpersonen sind ja die gleichen. In Europa leben immer mehr Muslime, und man muss immer mehr wissen und nachfragen. Meiner Meinung nach soll jeder beten, wo er will, ob in der Synagoge, in der Kirche oder in der Moschee. Hauptsache, man betet um Frieden. Wenn es keine Kriege mehr gibt, was brauchen wir mehr? Dann haben wir tatsächlich einen Gott.

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