Porträt der Woche

»Ich kann nicht jedem helfen«

Michael Naor arbeitet als Psychotherapeut in einer Suchtklinik in Neuss

von Annette Kanis  15.12.2014 19:11 Uhr

»Das Gehirn ist für mich immer noch etwas, das viele Geheimnisse in sich birgt«: Michael Naor (56) Foto: Alexandra Roth

Michael Naor arbeitet als Psychotherapeut in einer Suchtklinik in Neuss

von Annette Kanis  15.12.2014 19:11 Uhr

Ich arbeite gern mit Menschen. Selbst bei Gesprächen mit schwierigen Patienten habe ich sehr oft das Gefühl, dass wir uns gut verstehen, dass das Gespräch funktioniert. Wenn der Patient sich verstanden und angenommen fühlt, ist das für mich auch ein gutes Gefühl. Manchmal sprechen das Patienten an, aber auch, wenn sie es nicht sagen, spüre ich das.

Ich bin Psychologe und arbeite als Psychotherapeut in einer Klinik in Neuss. Ich habe mit Menschen zu tun, die Suchtprobleme haben. Das betrifft Missbrauch oder Abhängigkeit von Suchtmitteln, hauptsächlich von Alkohol, Medikamenten oder Drogen. Seit etwa zwei Jahren arbeiten wir mit einem neuen Konzept. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Doppel-Diagnosen, sogenannter Komorbidität. Das heißt, zu uns kommen Patienten, die eine Suchterkrankung haben, aber zusätzlich noch eine weitere psychische Störung wie eine Psychose, Depression oder Angststörung. Beide Störungen müssen behandelt werden.

Gehirn Psychologie hat mich immer fasziniert. Ich wollte wissen, wie der Mensch funktioniert, wie das Verhalten ist, und wie man es ändern kann. Die Funktionen des Gehirns finde ich bis heute sehr spannend. Ich bin noch nicht so weit, um wirklich alles zu verstehen. Das Gehirn ist für mich immer noch etwas, das viele Geheimnisse in sich birgt.

Gerade wenn man mit Suchtkranken arbeitet, ist die Therapie nicht immer erfolgreich. Sucht ist eine sehr schwierige chronische Erkrankung – und wenn sie gemeinsam mit einer Depression oder Psychose auftritt, dann ist das noch viel schwieriger. Man kann nicht davon ausgehen, dass man immer Erfolg hat. Das musste ich vor vielen Jahren akzeptieren. Am Anfang hatte ich den Anspruch, jedem zu helfen, jeden zu heilen – doch davon kommt man relativ schnell ab. Es ist wichtig, dass man das realistisch sieht. Und dann ist auch ein Misserfolg nicht so schlimm.

Was mir außerdem hilft, ist eine gute Abgrenzung. Es ist wichtig, dass ich mich am Ende des Tages kurz frage: Was habe ich heute gemacht, was habe ich geschafft, was steht für morgen an? Ich schließe dann damit ab und bin auf dem Weg nach Hause schon im Feierabend.

Abgrenzung Bei Begegnungen im Alltag psychologisiere ich nicht. Das wäre ganz schlimm. Oft haben Menschen, die mich kennenlernen, Bedenken. Sie meinen, sie müssten aufpassen, wie sie sich verhalten, und sich genau überlegen, was sie sagen. Es gelingt mir fast immer, die Arbeit nicht mit der Freizeit zu vermischen. Das meine ich auch, wenn ich von guter Abgrenzung spreche. Ich nehme die Arbeit nicht mit nach Hause. Da gibt es ganz andere Aufgaben.

In meiner Freizeit bin ich in der Gemeinde und für Organisationen aktiv. Das macht mir Spaß, auch wenn es viel Zeit in Anspruch nimmt. Aber ich finde es schön und auch wichtig. Früher war ich im Gemeinderat, jetzt bin ich in verschiedenen Ausschüssen und im Schiedsgericht aktiv. Außerdem engagiere ich mich seit vielen Jahren in der ZOD, der Zionistischen Organisation in Deutschland. Zurzeit bin ich Vizepräsident. Und ich mache bei ILI, »I like Israel«, mit: Unsere bekannteste Aktion ist der Israeltag. ILI entstand als ein Thinktank, wie man es heute nennt, um Israel positiv zu vertreten.

orangen Der Israeltag richtet sich an die breite Öffentlichkeit. Es fing 2002 sehr klein, sehr bescheiden an, als er erstmals in Berlin und in München durchgeführt wurde. Da wurden zum Beispiel Orangen mit einem kleinen Israelfähnchen auf der Straße verteilt. Mittlerweile sind es etwa 60 Städte und Gemeinden in Deutschland, die gleichzeitig an einem bestimmten Datum den Israeltag begehen.

Hier in Düsseldorf haben wir immer sehr gut mit der Stadt zusammengearbeitet. Man überließ uns für unser Straßenfest immer einen zentralen Ort, wo viel Publikum vorbeikommt. Es ist mir sehr wichtig, Gespräche mit den Leuten zu führen. Vor allem freue ich mich immer auf kritische Fragen. Vielleicht kann ich mein Gegenüber mit ein paar anderen Fakten konfrontieren und zumindest nachdenklich machen.

Früher war ich Chefredakteur des ILI-Newsletters. Das habe ich abgegeben, aber ich bin immer noch einer der Redakteure, und das nimmt auch etwas Zeit in Anspruch. Das Material sammle ich im Internet zusammen. Ich lese verschiedene israelische sowie die großen deutschen Zeitungen und suche positive Nachrichten über oder aus Israel.

Israel Ich bin in Israel geboren und habe einen Großteil meines Lebens dort verbracht. Meine Frau habe ich 1982 kennengelernt, sechs Jahre später haben wir geheiratet. Sie ist Diabetes-Spezialistin und stammt aus Düsseldorf. Zunächst lebten wir in Israel zusammen, dann wurde ihr Vater schwer krank. So beschlossen wir, für ein paar Jahre nach Düsseldorf zu gehen. Mittlerweile ist es ein bisschen mehr geworden. Wir haben Arbeit gefunden, und unsere beiden Söhne wurden hier geboren.

Ich bin immer noch Israeli, das verliert man nicht. Ich bin Jude, aber ich bin auch Israeli – das ist nicht immer das Gleiche. Es ist ein Zusatz. Mittlerweile fühle ich mich in Düsseldorf zu Hause. Ich habe ein angenehmes Leben hier und mit sehr vielen netten Menschen zu tun.

Was mir hilft, mich zu Hause zu fühlen, sind meine Familie und auch die Gemeinde. Das war mir von Anfang an wichtig. Denn die Gemeinde hat in der Diaspora auch die Funktion, Identität zu stärken. Gerade wenn man aus einem anderen Land kommt, dann passiert etwas mit der Identität.

sommerferien
Derzeit fahre ich ein- bis zweimal im Jahr nach Israel. Als meine Eltern noch lebten und die Kinder noch klein waren, haben wir immer die Sommerferien dort verbracht. Meine Familie ist ein großer Fan von Tel Aviv – diese Dynamik, eine so lebhafte Stadt, das lieben wir alle. Ich bin dort geboren und in einem religiös traditionellen Haus aufgewachsen. Mit mir wurde immer Hebräisch gesprochen, aber meine Eltern waren beide deutschsprachig – das hat mir später sehr geholfen.

Die beiden hatten keine leichte Jugend. Sie kamen 1946 als illegale Einwanderer nach Eretz Israel. Zuvor waren sie schon zusammen in Arbeitslagern. 1944 gelang es ihnen, aus einem Lager zu fliehen. In der Slowakei, in den Bergen, waren sie auf der Flucht teilweise mit Partisanen zusammen. In Israel haben sie sich dann eine Existenz aufgebaut.

Mein Vater hatte eine Kartonage-Fabrikwerkstatt, das ging dann Richtung Holz, und irgendwann kam dann auch Elektronik dazu, Stereoanlagen. Er hätte es gern gesehen, wenn ich da mit eingestiegen wäre. Aber meine Eltern haben es akzeptiert, dass ich Psychologie studierte. Ich hatte ein sehr warmes Elternhaus und eine gute Kindheit – das hilft einem später im Leben.

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