13. August 1961

»Ich hatte Angst«

Vor 54 Jahren begann der Mauerbau. Anlass für einen Rückblick auf den 13. August 1961. Wir haben einige Gemeindemitglieder nach ihren Erinnerungen befragt.

Helga Milgrom
Ich war mit dem Wagen auf der Autobahn unterwegs, von Westdeutschland nach Berlin, als ich im Radio den Bericht hörte, dass die Mauer gebaut worden war. Ich war erschüttert. Meine Mutter lebte in Westberlin, aber meine Tante und mein Onkel im Ostteil der Stadt. Sie konnten nicht mehr raus – und wir konnten jahrelang nicht zu ihnen. Auf einmal war alles abgeschnitten, sogar die Telefone funktionierten nicht mehr. Der Kontakt war vorübergehend abgebrochen. Später schickten wir Pakete und unterstützen unsere Verwandten. Die Paketscheine, ein kleiner Schnipsel war das jeweils, konnten wir steuerlich absetzen. Das hat mich als Finanzbuchhalterin überrascht. Jahre darauf erhielt ich einen Westdeutschen Pass und so konnte ich dann zu meinen Verwandten fahren.

Siegbert Aron
Im Sommer 1961 leistete ich gerade meinen Militärdienst in Israel. Erst Tage später erfuhr ich aus dem Radio vom Mauerbau in Berlin. Fernsehen gab es ja nicht. Diese Ereignisse in Berlin hatten mich nicht besonders berührt, denn damals war für mich nur wichtig, ob andere Staaten und Länder für oder gegen Israel waren. Obwohl ich in Berlin geboren war, interessierte mich zu diesem Zeitpunkt mein Geburtsland nicht allzu sehr. Als Kleinkind war ich mit meinen Eltern über Italien nach Shanghai emigriert. Ab 1948 war ich in Israel. Drei Kriege habe ich miterlebt, danach wurde ich schließlich Polizist. 1980 kam ich nach Berlin zurück und arbeitete bei der Polizei. Da habe ich unter der Insellage der Stadt sehr gelitten.

Inge Robert
Vor dem Mauerbau lebte meine Mutter in Ostberlin, ich mit meinem Mann und meiner ersten kleinen Tochter hingegen im Westen. Meine Mutter wollte rüberkommen und schickte vorher schon mal Geld in Briefumschlägen und ihre Sachen in Paketen zu uns vor. Sie wollte noch ihr Gehalt abholen und dann in den Westen fahren. So war ihr Plan. Aber dann kam alles ganz anders. Eines Tages erhielten wir einen Anruf von Bekannten aus Frankfurt. »Wisst ihr, es ist alles abgesperrt.« Mein Mann und ich beschlossen, dass ich allein in den Osten zu meiner Mutter fahren sollte. Ich machte mich auf den Weg, an meinem ganzen Körper klebte das Geld, das ich ihr nun zurückbringen wollte. In der Hand hielt ich einen Regenschirm. Ich hatte Angst und machte mir Sorgen, ob ich meine dreijährige Tochter und meinen Mann wiedersehen würde. In Treptow standen an der Grenze Zelte, dort wurde kontrolliert. Die Beamten konzentrierten sich nur auf meinen Regenschirm. Da war natürlich nichts, ich hatte ja ein besseres Versteck – und so konnte ich weiterfahren. Überall standen Panzer. Meine Mutter machte die Tür auf, sah mich und weinte. Ich gab ihr das Geld zurück. Dann fuhr ich heim nach Westberlin. In den nächsten Wochen schickte ich ihre Sachen zurück. Manchmal trafen wir uns an der Grenze in Treptow – sie auf der Ostseite, ich auf der Westseite. Wir winkten uns zu und waren unglücklich. Es war meinem Mann und mir klar, dass meine Mutter zu uns kommen sollte, nur wie – das wussten wir nicht. Eines Tages erhielten wir ein Angebot von einem uns unbekannten Mann. Einige Tausend Mark würde es uns kosten, sie in den Westen zu holen. Wir beratschlagten uns und entschieden uns dann dafür. Ich sollte meiner Mutter verschlüsselt mitteilen, dass ein Mann sie besuchen kommen würde. Das geschah auch. Er sagte ihr, dass sie ein Datum mitgeteilt bekommen würde, zu dem sie zum Bahnhof Friedrichstraße kommen sollte. Sie dürfe nichts mitnehmen, nur eine Handtasche. Vorher sollte sie zum Friseur gehen, Passfotos machen lassen und dann ihre schönsten Sachen anziehen. Sie sollte einen Diplomatenpass bekommen. Innerlich sehr aufgeregt, äußerlich gelassen, kam sie am verabredeten Tag zum Treffpunkt und begegnete dem Herrn, der von allen Vopos sehr devot mit militärischem Gruß empfangen wurde, so erzählte sie es mir später. Er brachte sie durch die Sperre in den Zug, dann ging er zurück. Plötzlich klingelte es – und sie stand vor unserer Tür. Wir kannten das Datum ja nicht. War das eine Freude! Von dem Mann hörten wir nichts mehr und dachten schon, dass wir nicht zur Kasse gebeten würden. Doch dann gab es wieder eine Benachrichtigung, wo und wann wir das Geld überreichen sollten. Die Mitarbeiter der Organisation schickten ein verdunkeltes Auto, und mein Mann überreichte ihnen das Geld wortlos durchs Fenster, ohne irgendjemanden gesehen zu haben. Wenige Wochen später lasen wir in der Zeitung, dass die Organisation »Diplomatenpass« aufgeflogen war. Aber ob es »unsere« war, erfuhren wir nie.

Hermann Simon
Mit meinen Eltern war ich in diesem Sommer in einem Ferienheim in Thüringen. Ich war 14 Jahre alt. Am 13. August waren alle plötzlich sehr aufgeregt und standen in Gruppen zusammen und diskutierten. Wenn ich ihnen näherkam, verstummten sie plötzlich. Erst einmal hatte sich für mich nichts geändert – ich musste ja weiter zur Schule gehen. Aber der 13. August war nun ein besonderes Datum. Mein Vater meinte immer, dass an diesem Tag nichts mehr passieren werde, weil schon einmal an diesem Datum etwas Gravierendes geschehen war. Er war sich sicher, dass die Grenze wieder geöffnet werden würde.

Albert Meyer
Am 11. August kam ich aus New York zurück, wo meine Schwester gerade geheiratet hatte. Am 13. August waren meine Eltern und ich auf dem Friedhof Heerstraße bei der Beerdigung Kurt Ehrlichs, als plötzlich ältere Leute anfingen zu tuscheln, dass die Mauer gebaut wurde. Mein Vater bekam Panik und schickte mich einen Tag später in die Schweiz. Dort besuchte ich ab diesem Zeitpunkt ein Internat – ich war 13 Jahre alt. Mein Vater reagierte so erschrocken und panisch, da er es versäumt hatte, während der Naziherrschaft rechtzeitig das Land zu verlassen. Bis 1942 war er Zwangsarbeiter und entging der Fabrikaktion nur deshalb, weil ihm ein Tag zuvor ein Rohr auf den Fuß gefallen war und er nicht zur Zwangsarbeit erschienen war. Er und meine Mutter überlebten in der Illegalität bei Potsdam. Sie hatten gefälschte Pässe, aber keine Lebensmittelmarken. Bis zu meinem Abitur blieb ich in der Schweiz. Auf dem Friedhof waren damals fast nur Menschen, die illegal die Schoa überlebt hatten und von den Russen befreit worden waren. Sie sagten nun kein böses Wort über den Mauerbau.

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024