Frankfurt

»Ich bin Jude in Deutschland«

Michel Friedman (l.) und Igor Levit treffen sich im Jüdischen Museum Frankfurt. Foto: screenshot

Igor Levit beschreibt sich auf seinem Twitter-Account gern selbst als »Citizen. Pianist. Activist. Mensch«. »Jeder dieser Begriffe ist ein integraler Teil von mir«, sagte Levit bei dem Gesprächsformat »Denken ohne Geländer« im Jüdischen Museum Frankfurt. Dort traf er sich mit dem Publizisten und Philosophen Michel Friedman. Mehr als 300 Zuschauer verfolgten die mit »Identität« betitelte Begegnung live auf Youtube.

Als Bürger beschreibt Levit einen Menschen, der Empathie gegenüber seiner Gegenwart zeigt, in der er lebt.

Unter »Citizen«, also Bürger, verstehe er einen Menschen, »der Empathie zeigt gegenüber der Gegenwart, in der er lebt«, erläuterte Levit. Es gehe darum, Verantwortung für die umgebenden Menschen und die Gesellschaft zu übernehmen. Als Beispiel für funktionierenden Bürgersinn führte Levit die Begrüßung von Flüchtlingen am Münchner Hauptbahnhof 2015 an. »Das hat mich wirklich umgehauen.«

Musik »Das ist mein Beruf. Das ist meine Spielwiese«, erklärte Igor Levit den Begriff »Pianist«. »Ich kann nicht ohne das Musikmachen leben.« Über seine Online-Hauskonzerte im ersten Shutdown im Frühjahr sagte er zwar, es habe nie gut geklungen. »Aber allein die Tatsache, dass da Töne rauskamen, hat offensichtlich sehr vielen Menschen Halt gegeben.« Auch ihm habe das Halt gegeben – »wie nie zuvor«.

Als Aktivist bezeichne er sich, »wenn ich persönlich mitkriege, dass jemand behandelt wird wie ein Mensch zweiter Klasse«. Es sei sein Wunsch, so sehr wie nur irgend möglich dem zu entsprechen, was im Jiddischen »a Mentsch« heiße. Das sei, so Levit, »ein Mensch von Ehre, ein Mensch, zu dem man hinaufschaut, an dem man sich orientiert. Ich möchte ein Mensch sein, dem man vertraut«, sagte er.

Friedman und Levit führten ein sehr persönliches Gespräch, in dem viele Facetten des aus Berlin angereisten Gastes zutage traten. »Ich muss mich in letzter Zeit als öffentliche Person verstehen«, sagte Levit, dem mehr als 114.000 Menschen auf Twitter folgen. »Ist das ein Teil Ihrer Identität?«, hakte Friedman nach. »Absolut. Leider«, entgegnete Levit.

Zuhause Auf die Frage, wo sein Zuhause sei, antwortete Levit kurz und bündig: »Hier.« Fast ungläubig setzte Friedman nach: »Ist Deutschland Ihr Zuhause?« »Ja. Mit allen Problemen, die damit verbunden sind«, bestätigte Levit. Er habe eine unbeschwerte Jugend in Deutschland gehabt, bekannte der 1987 im russischen Gorki (heute Nischni Nowgorod) geborene Musiker. Bis Mitte 20 habe er »eine beinahe finsterfreie Partyzeit« erlebt. Er habe sich in die deutsche Sprache verliebt. »Ich habe mich immer gefühlt wie einer von uns. Niemals wurde meine Identität infrage gestellt«.

Er habe eine unbeschwerte Jugend in Deutschland gehabt, bekennt Levit, der 1987 im russischen Gorki (heute Nischni Nowgorod) geboren wurde.

Das sei jetzt anders. »Irgendwann habe ich gemerkt, ich bin gar nicht einer von uns.« Mit seiner jüdischen Identität habe er sich nie beschäftigt, bis andere ihn daran erinnerten. »Mit der Zeit steigt das Bewusstsein dafür: Ich bin Jude in Deutschland«, so Levit. »Das war nie Thema. Das ist jetzt Thema«, resümierte er.

Politik Beruflich befinde er sich derzeit in einem Konflikt: Er sei zu 98 Prozent arbeitslos und könne nicht auftreten. Als Musiker finde er nicht statt. Levit zeigte Verständnis für die Maßnahmen, die zu dieser Situation führen. »Wir sind in einer Pandemie, und dem hat man mit Demut zu begegnen, mit Respekt.« Ein Teil von ihm wolle wieder spielen, ein Teil habe Angst vor diesem Alltag. Damit versuche er umzugehen. Und weil er als Pianist derzeit nicht stattfinde, werde er mitunter ausschließlich als politischer Mensch wahrgenommen. »Ich habe nie zwischen dem Politischen und dem Künstlerischen getrennt«, betonte Levit. Aber er sei kein Politiker, sondern Aktivist und Mahner.

Auch am Tag darauf trat Igor Levit öffentlich in Erscheinung. Im mittelhessischen Dannenröder Forst, nordöstlich von Frankfurt, spielte er ein Solidaritätskonzert für Aktivisten, die die Abholzung des Waldstücks für den Weiterbau einer Autobahn verhindern wollen.

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024