»Versuche, dein Leben zu machen« - dieser Satz ist Margot Friedländer von ihrer Mutter geblieben, bevor sie mit ihrem Sohn Ralph, Margots Bruder, deportiert und in Auschwitz ermordet wurde. Der von der Mutter hinterlassene Satz ist auch der Titel von Friedländers Autobiografie, die beschreibt, was es hieß, als Jüdin versteckt in Berlin zu leben - und zu überleben.
Nach dem Krieg ging sie mit ihrem Mann Adolf in die USA und kehrte 2010 wieder dauerhaft in ihre Geburtsstadt zurück. Sie war eine bekannte Zeitzeugin, die ihre Erlebnisse weitertrug und über die NS-Verbrechen sprach, vor allem mit Schülern. Nun ist Margot Friedländer am Freitag im Alter von 103 Jahren gestorben.
Zwangsarbeit und Versteck
Zur Welt kam sie 1921 in Berlin als Margot Bendheim. Nach der Schule arbeitete sie in einer Schneiderei, ab 1940 musste sie Zwangsarbeit leisten. Ihre Familie hatte versucht, vor den Nationalsozialisten in die USA zu fliehen - vergeblich. Dann kam der 20. Januar 1943: Die 21-jährige Margot wollte sich mit ihrem Bruder und ihrer Mutter treffen, um die Flucht vor der Gestapo vorzubereiten. Doch ihr Bruder war kurz zuvor abgeholt worden, und auch die Mutter kam nicht zu dem vereinbarten Treffpunkt.
Die Mutter hinterließ bei Nachbarn eine Botschaft für ihre Tochter: »Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen. Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.« Was ihr noch von ihrer Mutter blieb: deren Handtasche mit einem Adressbüchlein und einer Bernsteinkette.
Viele Fragen blieben
Und viele Fragen. »Warum hat meine Mutter nicht gewartet? Sie hat sich für meinen Bruder entschieden«, schreibt sie. Für Margot Friedländer begann das Leben im Untergrund, von Versteck zu Versteck. Sie schreibt: »Der Tag, an dem ich untertauche, nehme ich den Judenstern ab.« Sie ging ohne Ziel durch die Straßen, einfach um zu gehen. Sie bekam Adressen für ganz unterschiedliche Verstecke, von jedem Abschied musste sie annehmen, dass er für immer war.
Friedländer schaffte es, insgesamt 15 Monate lang von Unterschlupf zu Unterschlupf im Untergrund zu bleiben. Doch dann geriet sie im April 1944 in die Hände von »Greifern« - das waren Juden, die für die Gestapo arbeiteten, versteckte Juden aufspürten und auslieferten. Sie wurde nach Theresienstadt gebracht.
Theresienstadt war »Zwischenreich«
Theresienstadt sei ein »Zwischenreich« gewesen, »nicht Leben, nicht Tod«, erinnerte sich Friedländer. »Eine Frage bestimmte unser Leben: Wie viel kann der Mensch aushalten?« Um sie herum Hunger, Elend, Halbtote und Tote. Sie sei jedoch entschlossen gewesen, zu überleben.
So ist es dann gekommen, ihre Familienmitglieder jedoch waren tot. Ihrer Mutter habe sie sich immer nahe gefühlt, so Friedländer. In Theresienstadt war sie Adolf begegnet, den sie aus Berlin kannte, und der später ihr Ehemann werden sollte. Nach der Befreiung des Lagers und dem Ende des NS-Terrorregimes wanderte Friedländer mit ihrem Mann 1946 in die USA aus. Dort arbeitete sie als Reiseagentin und Schneiderin.
»Geschenk für unsere Gesellschaft«
Seit 2010 lebte Friedländer wieder in Berlin - und trat immer wieder als Zeitzeugin auf. Im Rahmen ihres Engagements erhielt sie zum Beispiel 2021 für besondere Verdienste im christlich-jüdischen Dialog die Jeanette-Wolff-Medaille. 2011 bekam sie das Bundesverdienstkreuz am Bande. Die für Freitag geplante Überreichung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war schon kurz zuvor abgesagt worden. »Margot Friedländers Vermächtnis ist uns Mahnung und Verpflichtung, gerade in einer Zeit, in der die Demokratie angefochten wird und sich Antisemitismus wieder unverhohlen zeigt, bleibt es unsere Verantwortung, die jüdische Gemeinschaft in unserem Land nie wieder im Stich zu lassen«, so Steinmeier in einem Kondolenzschreiben.
Friedländer gründete zudem eine nach ihr benannte Stiftung, die 2024 erstmals einen Preis verlieh. Die mit insgesamt 25.000 Euro dotierte Auszeichnung ging an sechs Preisträger, die sich für menschliches Miteinander, stärkere Demokratie und die Erinnerung an die Opfer des Holocausts engagierten.
Im selben Jahr bekam sie den Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin. Von ihr lasse sich lernen, sich für die eigenen Werte einzusetzen, gesellschaftliche Abgründe zu überbrücken und im Gespräch zu bleiben, sagte Museumsdirektorin Hetty Berg. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck würdigte Friedländers Haltung und Engagement als »Geschenk für unsere Gesellschaft«.
7. Oktober: »Zutiefst erschüttert«
Friedländer selbst warnte immer wieder vor Antisemitismus. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sagte sie mit Blick auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober: »Ich bin erschüttert, zutiefst erschüttert. Kinder, Babys, alte Leute einfach umzubringen. Köpfe abzuschneiden. So ein Hass. Menschen bringen Menschen um, weil sie eine andere Religion haben. Gibt es denn das, sind wir nicht alle gleich? Das hat nichts mehr mit Menschlichkeit zu tun.« Und: »Ich weiß es nicht, wie man jemanden so hassen kann. Ich liebe Menschen, in jedem steckt etwas Gutes.«