Frankfurt

Gut miteinander leben

Vor 100 Jahren verwirklichten Henry und Emma Budge eine einzigartige Idee

von Elke Wittich  26.11.2020 09:18 Uhr

Jeder Bewohner mit eigenem Balkon: Diese Idee prägt noch heute die Fassade des Heims. Foto: Thomas Rau

Vor 100 Jahren verwirklichten Henry und Emma Budge eine einzigartige Idee

von Elke Wittich  26.11.2020 09:18 Uhr

Dieses Jahr »sollte für uns ganz besonders werden«, sagt Rabbiner Andrew Steiman von der Henry und Emma Budge Stiftung. Vor 100 Jahren hatte das jüdische Ehepaar die Stiftung gegründet, die in Frankfurt eine Senioren-Wohnanlage betrieb und heute wieder betreibt, mitsamt Pflegeheim. Coronabedingt konnte der Festakt im Kaisersaal des Römers am 20. November nur ohne Publikum stattfinden.

Die Bewohner haben die Enttäuschung aber mit Humor genommen, tröstet sich Steiman: »Durch die Pandemie hatten wir die Gästeliste ohnehin zusammenstreichen müssen. Das Los sollte entscheiden, wer mitdurfte. Als klar wurde, dass auch die wenigen Gewinner nichts davon hätten, sagte eine von ihnen: ›Dann haben wir eben alle verloren und damit alle gewonnen.‹« Nun sehe man es als eigentliches Geschenk zum Hundertsten, dass nach einem glimpflich verlaufenen Corona-Fall alle Bewohner wohlauf sind.

Wiederbelebung 1941 von den Nazis aufgelöst, gehört die Stiftung zu den wenigen der einst vielen jüdischen Gründungen, die neu aufgestellt wurden. Doch erst 1968 wurde ein neues Heim eröffnet, das wie sein Vorgängerbau gemäß den Vorgaben der Budges sowohl jüdischen als auch nichtjüdischen Senioren offensteht.

Viele Nichtjuden nehmen gern an den Veranstaltungen zu den jüdischen Feiertagen teil.

Dialog spielt eine große Rolle im Heim. Die hauseigene Synagoge befindet sich auf derselben Etage wie die gleich große christliche Kapelle, und eine koschere Küche ergänzt das Menü-Angebot für alle. Das religiöse Miteinander schätzen die Heimbewohner sehr. Gerade Nichtjuden nehmen gern an den Veranstaltungen zu den jüdischen Feiertagen teil.

»Die Mesusa an der Eingangstür allein macht kein jüdisches Heim«, sagt Rabbiner Steiman und verweist auf die verschiedenen Veranstaltungen zu jüdischen Themen, die den Bewohnern regelmäßig angeboten werden. »Wir lernen und diskutieren bei Kaffee und Kuchen auch klassische jüdische Texte, Juden und Christen zusammen – im Licht der Lebenserfahrung dieser Generation, die hohe Ansprüche stellt.«

Der Rabbiner gestaltet Lernstunden »wie eine offene Predigt: Alle können daran mitwirken«. Diese Beiträge seien sehr fundiert. »Sie bereiten sich vor wie Studenten, das ist beeindruckend. Und es gibt für mich nichts Schöneres, als wenn ein 89-Jähriger fragt: ›Was lernen wir denn im nächsten Monat?‹«

Für die jüdischen Bewohner ergebe sich durch den Dialog und das Zusammenleben mit ihren nichtjüdischen Nachbarn dann ein wertvoller Nebeneffekt: »Es wird dadurch klar, wie reichhaltig unsere Tradition doch ist – wie Martin Buber schon sagte: im Dialog erkennt man sich selbst.«

International Die Budges waren echte Weltbürger. Henry aus Frankfurt und Emma aus Hamburg hatten einen internationalen Freundeskreis. Sie galten als gute Gastgeber und Förderer von Kunst und Künstler. Legendär war der Auftritt des Tenors Enrico Caruso auf seinem Weg nach Amerika im Hamburger »Budge-Palais«. Den hatte ihm Emma Budge ermöglicht.

Ihre Kunstsammlung galt bis zur Zwangsversteigerung durch die Nazis als wegweisend. »Wie heute noch mit solchen Erinnerungsstücken umgegangen wird, belegt traurig, wie überhaupt mit Erinnerung umgegangen wird«, bedauert Steiman.

Henry Budge war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher Geschäftsmann. In den USA beteiligte er sich daran, große Eisenbahnunternehmen zu sanieren. Und es zeigte sich, »wie deutsch Budge doch war«, meint Rabbiner Steiman. »Ihm fiel sofort auf, dass es keine Bahnhofsuhren gab.« Budge führte umgehend »einen deutschen Standard ein: Bahnhofsuhren – und damit Pünktlichkeit«. In seinem gesamten Wirken sei er »sowohl sehr deutsch als auch sehr jüdisch gewesen«, sagt Steiman.

Henry Budge erfand für das amerikanische Eisenbahnwesen die Bahnhofsuhr, damit kamen auch die Züge pünktlicher.

Wahrscheinlich wären die Budges stolz auf das gewesen, was ihre Stiftung erreicht hat. »Wir bieten gute Gesellschaft und viel Kultur«, sagt Rabbiner Steiman, »dazu ein Angebot fast wie eine VHS. Man kann hier wirklich bis ins hohe Alter aktiv bleiben.« Kooperationspartner vor Ort, ob Jüdische Volkshochschule, Jüdisches Museum oder die Bildungsstätte Anne Frank, beteiligen sich an gemeinsamen Projekten.

Dann kommen auch Teilnehmer von Jung bis Alt aus der ganzen Stadt zu den Veranstaltungen, erzählt Steiman. Zeitzeugen-Gespräche sind an der Tagesordnung – und laufen in der Pandemie eben digital weiter.

Vor der Pandemie konnten auch Bar- und Batmitzwa-Feiern in der Synagoge und den Räumen der Stiftung gefeiert werden. »Das war eine Win-win-Situation«, findet Rabbiner Steiman: »Die Bewohner haben sich über das Kinderlachen gefreut, und die junge Generation lernte Respekt für das Alter als wichtige und erfüllende Mizwa.« Das Heim sei in Frankfurt »überhaupt ein offener und beliebter Treffpunkt für alle in den letzten Jahren« geworden.

Geburtstag An Henrys 80. Geburtstag wurde mit zwei Millionen Goldmark die Stiftung einst gegründet. Es war eine Zeit des Aufbruchs, aber auch der Unruhe: Das Ende des Ersten Weltkriegs versprach Hoffnung, brachte aber auch die antisemitisch konnotierte »Dolchstoßlegende« mit sich, um die Niederlage umzudeuten. Dazu tobte eine weltweite Grippe-Pandemie. »100 Jahre später ist wieder eine Pandemie, und der Antisemitismus erweist sich auch als Konstante«, stellt Steiman ernüchternd fest.

Die Gründung der Budge-Stiftung erfolgte in der Schweiz.

Die Gründung erfolgte in der Schweiz, wo die Budges auf ihre Einreise nach Deutschland warteten, bis sie nicht mehr als »feindliche Ausländer« galten. Henry Budge erlebte die Eröffnung des Heims »für alleinstehende alte Menschen«, wie es damals hieß, im Juni 1930 nicht mehr, er war 1928 kurz vor seinem 88. Geburtstag verstorben.

Bauhaus-Stil Das damals im Bauhaus-Stil errichtete Heim bot den Bewohnern einen außergewöhnlichen und bis heute wegweisenden Komfort: Jede Wohnung war mit einer Terrasse oder eigenem Balkon ausgestattet, dazu mit fließendem Wasser. Große Fenster sorgten für viel Licht. »Das war damals mehr als wegweisend«, so Steiman.

Die 1937 verstorbene Emma Budge hatte angesichts des zunehmenden Terrors gegen Juden ihr Testament sowie eine geplante Schenkung an die Stadt Hamburg widerrufen. Sofort nach ihrem Tod wurde ihr Vermögen und damit auch die Stiftung »arisiert«. Alle jüdischen Bewohner wurden deportiert und ermordet.

Vorbild Die kinderlosen Budges wollten ihren Namen weitergetragen wissen und mit ihrer Stiftung Bürgersinn zeigen. »Sie wollten Vorbild sein – und sehnten sich wohl als Juden nach gesellschaftlicher Anerkennung von den nichtjüdischen Eliten«, sinniert Rabbiner Steiman zur Motivation des Stifterpaars. »Diese Anerkennung wäre erreicht, wenn auch christliche Stifter ein Pendant gegründet hätten. Bis heute ist das aber nicht geschehen«.

Steimans Fazit klingt bitter, auch für die Motivation jüdischer Stifter: »Es bleibt auch die selbstkritische Feststellung, dass sich Juden vor 100 Jahren genauso nach gesellschaftlicher Anerkennung sehnten wie wir das heute immer noch tun – und dass uns diese Anerkennung nach wie vor verweigert wird, wenngleich etwas freundlicher.«

Dabei »könnten wir uns auf uns selbst besinnen und viel Erfüllung in unserer reichhaltigen Tradition finden – und sei es durch den Umweg des Dialogs«. Vielleicht war das auch eine Triebfeder für die Budges vor 100 Jahren.

www.budge-stiftung.de

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