9. November

Geschichte, die sichtbar bleibt

Münchens 2. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden, IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch und der amerikanische Generalkonsul Timothy Liston (v.l.) Foto: Astrid Schmidhuber

Die Decke des Alten Rathaussaals ist kunstvoll mit dunklem Holz verziert. Unter ihr wurden im Lauf der Jahrhunderte Theaterstücke aufgeführt, hier fand 1805 die erste Pockenschutzimpfung statt, und im 18./19. Jahrhundert wurden an diesem Ort die Lottozahlen gezogen. 1848 erfolgte im Alten Rathaus die Stimmabgabe für die Wahl der Münchener Abgeordneten der Nationalversammlung. Und unter ebendieser Vertäfelung hielt Joseph Goebbels am 9. November 1938 die antisemitische Hetzrede, die die Pogromnacht in Gang setzte.

Zum 84. Mal jährte sich am Mittwoch vergangener Woche die Nacht, in der unzählige jüdische Geschäfte und Kaufhäuser verwüstet, Juden misshandelt und die Synagogen im ganzen Land, in München in der Herzog-Rudolf-Straße und in der Reichenbachstraße, in Brand gesteckt wurden. »Ich höre noch, wie das Glas klirrt und wie das brennende Holz knistert«, sagte Charlotte Knobloch beim Gedenken im Alten Rathaussaal.

vergessen Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern sah als Sechsjährige an der Hand ihres Vaters mit eigenen Augen, wie die Synagoge in Flammen stand. Keine Feuerwehr kam, um sie zu löschen. An ihre Gefühle, die Wut, das Unverständnis, die Hilflosigkeit kann sich Charlotte Knob­loch deutlich erinnern. Diese Erinnerung teilt sie – immer wieder und unermüdlich –, um gegen das Vergessen anzugehen. Sie erzählt von dem Gräuel, das sie selbst miterleben musste. Auch an diesem Abend, unter der dunklen Holzvertäfelung im voll besetzten Rathaussaal, vor zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern, prominenten Gästen und digitalen Zuschauern.

Charlotte Knobloch sah mit eigenen Augen, wie die Synagoge in Flammen stand.

Bei der diesjährigen Gedenkstunde aus Anlass des 9. November wurde an das Personal des Israelitischen Kranken- und Schwesternheims in der Ludwigsvorstadt erinnert, an die Pflegerinnen und Pfleger, die Ärzte sowie Patientinnen und Patienten, die im Sommer vor 80 Jahren ihrer Heimat entrissen und in den sicheren Tod nach Theresienstadt deportiert wurden.

Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz Bauer Instituts und Inhaberin des Lehrstuhls zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, sprach über den schrecklichen Alltag in Theresienstadt, die Grausamkeit und Verschleierungstaktik der Nationalsozialisten. Aus letzten Briefen der Deportierten lasen Julia Cortis und Thomas Höricht. Musikalisch wurde die Veranstaltung durch das Shalom-Ensemble umrahmt.

namenslesung Die Namenslesung am Vormittag fand dieses Jahr zum ersten Mal im Alten Rathaussaal statt. Kulturreferent Anton Biebl, der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr, Claudius Blank, Münchens Polizeivizepräsident Michael Dibowski, Schulleiterin Gesa Hollauf, Oberstufenkoordinatorin Mareile Müller und Petra Reiter sowie Oberstufenschülerinnen und -schüler des Städtischen Luisengymnasiums verlasen die Namen und Biografien der Menschen aus der Klinik, die selbst nicht mehr erzählen können. Im Anschluss beteiligten sich mehr als 300 Menschen an dem Erinnerungszug durch die Innenstadt und zum Gedenkstein der Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße.

Vor dem Gedenkstein sprach Rabbiner Shmuel Aharon Brodman von der Kultusgemeinde das Gebet El Mole Rachamim. Viele der Schülerinnen und Schüler brachten Steine mit, die sie auf und um den Gedenkstein legten.

»Die letzten Zeitzeugen der NS-Zeit sind heute hochbetagt. Immer weniger von ihnen können ihre Geschichte noch erzählen«, sagte IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, die vor Kurzem ihren 90. Geburtstag feierte. Die Ära der Überlebenden der Schoa, die von dem Schrecken berichten könnten, sei in Kürze vorbei. »Wer ihre Stimmen noch hören will, der muss es bald tun.«

zukunft Die Aufforderung, die Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren und weiterzugeben, richtete sie besonders an die jungen Menschen. Sie seien es, die die Zukunft gestalteten.

»Nur Geschichte, die sichtbar bleibt, bleibt auch Geschichte. Wer vergessen will, der droht die Geister der Vergangenheit ein zweites Mal freizulassen«, sagte Charlotte Knobloch. Die Krise sei längst da: der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung, der Protest und die drohende Ablehnung der Demokratie, deren Gerüst längst ins Wanken geraten sei.

Ausgerechnet am 84. Jahrestag der Pogromnacht veranstalteten etwa 350 Verschwörungsgläubige und Impfgegner unweit der Gedenkveranstaltung eine Kundgebung für »politische Gefangene«.

Ausgerechnet am 84. Jahrestag der Pogromnacht veranstalteten etwa 350 Verschwörungsgläubige und Impfgegner unweit der Gedenkveranstaltung in der Münchener Innenstadt eine Kundgebung für »politische Gefangene« und brüllten rechtsradikale und antisemitische Parolen. Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle hatte die geplante »Querdenker«-Demo im Vorfeld verurteilt. Ein generelles Verbot war nicht möglich, zumindest aber konnte die Landeshauptstadt die Demonstrierenden vom Marienplatz fernhalten.

schirmherrschaft Die Gedenkveranstaltung stand unter der Schirmherrschaft von Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), der wegen Krankheit selbst nicht anwesend sein konnte und von der 2. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Bündnis 90/Die Grünen) vertreten wurde. Mit unmissverständlichen Worten verurteilte die Politikerin jegliche Art der Judenfeindlichkeit.

Sie nannte die antisemitischen Übergriffe in München und kritisierte, dass Gesellschaft, Politik, Justiz, Medien und Kunst, wie bei der Kasseler documenta zu beobachten, oftmals unfähig seien, Antisemitismus zu erkennen. Dies sei aber wichtig, um gemeinsam, entschieden und konsequent dagegen vorzugehen.

»Ich sehe ein Nicht-Wegschauen-Wollen«, sagte Charlotte Knobloch. »Ich sehe Augen, die sich nicht abwenden; Ohren, die nicht weghören; und Hände, die zur Tat bereit sind. Ich sehe junge Leute, die bereit sind, alles zu tun, damit die Fackel der Erinnerung nicht verlöscht.«

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