Homeschooling

Gelernt haben alle etwas

Um 7.15 Uhr ertönt das erste »BING!« auf dem Smartphone. In den Klassenchats lädt die Sportlehrerin ein: »7.20 Uhr Telegym – wer ist dabei?« Am Jüdischen Gymnasium München beginnt ein neuer Schultag in Corona-Zeiten. Denn dass die Schulen geschlossen sind, bedeutet nicht, dass kein Unterricht stattfindet. Wie an allen Schulen in Deutschland wurde auch am Jüdischen Gymnasium auf Remote-Unterricht umgeschaltet.

Chance Die Krise als Chance begreifen – davon ist in letzter Zeit viel die Rede. Auch das Kollegium des Jüdischen Gymnasiums stellte sich der Herausforderung, den Schülerinnen und Schülern drei Wochen lang unter Nutzung aller erdenklichen digitalen Möglichkeiten Lerninhalte zu vermitteln.

Da die Schulschließungen nicht völlig überraschend kamen, blieb dem Team im Vorfeld immerhin die Zeit, Bücher und Materialien mit nach Hause zu geben und für jede Klasse eine Chat-Gruppe einzurichten. Auch wurde als vorbereitende Maßnahme ein praktikabler Notfallstundenplan erstellt, der darauf achtete, dass die Schüler auch wie bisher ganztags bis 16.15 Uhr mit den unterschiedlichen Lerninhalten konfrontiert werden konnten.

Morgengymnastik, Morgengebet, Unterrichtsbeginn. Jeder Tag sollte seine feste Struktur haben, entschied das Kollegium.

Anders als die meisten anderen Schulen entschied sich das Kollegium gegen Wochenpläne, bei denen die Schüler zu Beginn eine große Anzahl an Arbeitsblättern und anderem Material zur Verfügung gestellt bekommen und dann selbst entscheiden müssen, wie sie die Stoffmenge auf die Woche verteilen.

kreativität Dieser Weg wurde aus gu­tem Grund eingeschlagen. Inhalte eigenständig sinnvoll über die Woche zu verteilen und dabei auch noch auf eine Rhythmisierung, also einen Wechsel von Lernen, Üben, Vertiefen, Bewegung, Kreativität und Pause zu achten, stellt schon Erwachsene mitunter vor eine unlösbare Aufgabe. Die Praxis zeigt, dass Aufgaben häufig geblockt an ein bis zwei Tagen abgearbeitet werden und für den Rest der Woche nichts mehr bleibt.

Das ist weder lernpsychologisch sinnvoll und effektiv, noch lässt es sich mit der Tatsache vereinbaren, dass ja nicht nur die Kinder zu Hause, sondern auch die meisten Eltern im Homeoffice tätig und damit darauf angewiesen sind, dass ihre Kinder während der regulären Unterrichtszeiten beschäftigt sind.

Morgengymnastik, Morgengebet, Unterrichtsbeginn. Jeder Tag hatte seine feste Struktur, an der sich die Schüler orientieren konnten, stets begleitet von ihren Lehrkräften, wenn auch nicht live vor Ort, so doch zu den festen Zeiten im Stundenplan im Chat anwesend.

klassenchats »Hallo, liebe 5. Klasse, nun beginnt der Deutschunterricht. Den heutigen Arbeitsauftrag findet ihr bei Mebis. Wenn es Fragen gibt, jederzeit während meiner Stunde hier im Chat! Ich bin gespannt auf eure Lieblingsmärchen!« So oder ähnlich meldeten sich die Fachlehrer zu Beginn ihrer Stunde in den Chats, und schon konnte der Unterricht beginnen.

»What time is it?« (Lehrer) – »It’s time for English!« (Schüler) oder »Coucou, où êtes-vous?« (Lehrerin) – »Je suis là!« (Schülerin). So in etwa lauteten die Einleitungen zu den über den Tag immer zur gleichen Uhrzeit eingezogenen Vokabelschienen in Englisch, Französisch und Hebräisch. Begleitet von gelegentlichen Aufmunterungen, chatteten die Schüler dann in dieser Zeit mit ihren Fremdsprachenlehrkräften munter um die Wette. Fast konnte man das Sprachengewirr hören, so schnell war mitunter der Schlagabtausch.

Die Lehrkräfte, egal in welchem Fach, waren in der jeweiligen Zeitschiene immer ansprechbar.

Ob Deutsch, Mathematik, Natur und Technik, Chemie oder Kunst – ansprechbar waren die Lehrkräfte immer in der jeweiligen Zeitschiene, und so wurde dieser Kanal beständig genutzt. Hatte man sich in Hochphasen für kurze drei Minuten ausgeklinkt, stieß man nach der Rückkehr in den Chat schon mal auf 126 neue Nachrichten.

Auch an Sport und Pausen wurde gedacht. Nicht nur Telegym stand auf dem Stundenplan, sondern zudem das Angebot des Münchner Fitnesstests. Moderiert wurden die Chats vornehmlich von der stellvertretenden Schulleiterin Nora Seiler, die darauf achtete, dass tatsächlich nur fachliche Fragen gestellt wurden und die »Netiquette« gewahrt blieb. Da gab es dann bisweilen eine kurze, freundliche Rüge, wenn mit dem einen oder anderen der Gaul durchging und über die Technik geflucht wurde.

plattform Neben den Klassenchats wurde die Website des Gymnasiums entsprechend programmiert, um die täglichen Aufgaben hochladen zu können. Mebis, das Lernportal, an das alle bayerischen Schulen angeschlossen sind, brach in der ersten Woche der Schließung unter der Last der plötzlichen Zugriffe regelmäßig zusammen, sodass die Website als die zuverlässigere Plattform erschien. Nach einer Woche wurden die Kapazitäten auf Mebis aufgestockt, sodass auch das Jüdische Gymnasium dorthin wechseln konnte.

Die Arbeitsaufträge sind höchst unterschiedlich vom Arbeitsblatt, über Quiz-Spiele, Erklärvideos bis Vorlestunden und Online-Tests.

Hier fanden sich nun klassen- und fachweise Arbeitsaufträge in unterschiedlichsten Formaten – vom klassischen Arbeitsblatt über Quiz-Spiele, Audiodateien, Erklärvideos, Umfragen, Videobotschaften, Vorlesestunden bis hin zu Online-Testformaten.

Erklärvideos, Screencasts und andere Videodateien konnten von den Lehrkräften auf den extra eingerichteten YouTube-Kanal des Jüdischen Gymnasiums hochgeladen und dann mit Mebis verlinkt werden. Natürlich fand sich hier auch ein Video zum täglichen Morgengebet und zur Gestaltung der häuslichen Schabbatfeier, denn auch die Schulfeier konnte ja nicht im gewohnten Rahmen stattfinden.

highlights Nicht nur hierfür wurde die Möglichkeit von Live-Videokonferenzen genutzt. Zweifellos war der Freitag, an dem beinahe alle Schüler und Kollegen zum gemeinsamen Schulschabbat, ausgerüstet mit Kerzen und der selbst gebackenen Challa, per Videokonferenz zusammenkamen, eines der Highlights dieser außergewöhnlichen Zeit. Es ist etwas ganz anderes, wenn man sich live – wenigstens per Videoübertragung – sehen kann.

Schule bietet mehr als nur Lerninhalte, es ist der Ort des sozialen Ausprobierens und Erlebens.

Denn Schule ist für Schüler viel mehr als nur die Vermittlung von Lerninhalten. Es ist der Ort für Begegnung mit Freunden, für Diskussion, für soziales Lernen – für manche ist es ein Zufluchtsort, für andere ein notwendiger Ort, um innerlich zu wachsen, die eigenen Grenzen zu erfahren, zu lernen, wie Gesellschaft im Kleinen funktioniert. Und es ist dieser soziale Lernraum, der fehlt, wenn Schule nur zu Hause stattfinden kann.

Das merkte man nicht zuletzt in den Live-Konferenzen, in denen ein großer Teil der Stunde erst einmal darauf verwendet wurde, abzufragen, wie es den anderen im Moment ergeht. Das anfängliche Hochgefühl – »Corona-Ferien« – verschwand bei den meisten schnell innerhalb der ersten Woche des Homeschooling. Umso wichtiger wurde es, auch die abzuholen, die sich in den Chats selten meldeten.

Sie wurden angerufen oder direkt angeschrieben. »Wo steckst du?«, »Was ist los?«, »Wo brauchst du Unterstützung?« – ob es um technische Probleme ging, um seelische Nöte oder einfach nur darum, mal wieder eine andere Stimme zu hören als die der Familie. Diese Anrufe von Schulseite signalisierten: »Wir sind da, auch wenn wir uns gerade nicht sehen können.«

beistand Manchmal waren es auch die Eltern, die Beistand benötigten. Sei es, um sie zu beruhigen, wenn sie den Eindruck hatten, ihr Kind arbeite zu wenig, sei es, um auch hier ein Ohr für Nöte zu haben. Ja, Schule ist so viel mehr als Unterricht.

In den »JGM News« durfte auch einfach mal ausgelassen gelacht werden.

Und manchmal ist Schule auch einfach Unterhaltung: Jeden Morgen wurden alle durch ein Guten-Morgen-Video der Schulleitung begrüßt. In den »JGM News« ging es dabei ausnahmsweise einmal nicht um die neuesten, ernsten Fakten rund um das Coronavirus. Nein, es durfte einfach ausgelassen gelacht werden.

Motto Ob über das jeweilige Motto der Woche, den Schlagabtausch zwischen der Schulleitung und ihrer Stellvertretung per Videotelefonie oder auch die Outtakes ganz am Ende. Für manche war das der notwendige Motivationsschub, um in den neuen Schultag zu starten. Und ganz nebenbei hatte auch die Schulleitung währenddessen viel zu lachen in einer sonst wenig erfreulichen Zeit.

Ein Fazit, das das Kollegium bei der letzten Videokonferenz vor den Ferien zog, war, dass Remote-Unterrichten keineswegs nervenschonender und entspannter ist als das tägliche Live-Unterrichten. Ganz im Gegenteil. Es geht an die Grenzen und manchmal darüber hinaus.

Die digitalen Möglichkeiten sind Segen und Fluch, weil es keine natürlichen Zeitgrenzen mehr gibt.

So sind die digitalen Möglichkeiten zweifellos ein Segen, aber mitunter werden sie auch zum Fluch, wenn es beispielsweise keine natürlichen Zeitgrenzen mehr gibt. An manchen Tagen wurden die letzten Arbeitsergebnisse um 22 Uhr hochgeladen, Telefonate weit nach Unterrichtsschluss geführt und neue Aufgaben nach dem Abendessen erstellt.

Gelernt haben in dieser Zeit alle etwas: Das Kollegium und die Schüler haben ihre Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien notgedrungen ausgebaut, Eltern haben erlebt, wie gut ihre Kinder alleine arbeiten können und wo es Probleme gibt, und die Schule konnte ein wenig die Früchte der Investition in die Technik ernten. Und wie geht es weiter? Diese bange Frage stellen sich alle Mitglieder der Schulfamilie. Eines ist sicher: Das Jüdische Gymnasium ist vorbereitet.

 

Information

Eine jüdische Gemeinde hat viele Aufgaben, doch keine davon ist so wichtig und so entscheidend für die Zukunft wie die Bildung unserer Kinder. Der jungen Generation das Wissen unserer Zeit und ganz besonders die reiche Tradition des Judentums näherzubringen, zählt zum Wesenskern unseres jüdischen Selbstverständnisses.

Es schmerzt uns deshalb ganz besonders, dass auch die Einrichtungen des Erziehungsbereichs unter den aktuellen Einschränkungen infolge der Corona-Krise zu leiden haben. Im Haus des Kindes in der Möhlstraße, im Alexander-Moksel-Kindergarten sowie in der Sinai-Grundschule und im Jüdischen Gymnasium ist an Normalbetrieb seit Wochen nicht mehr zu denken.

Dennoch machen die Teams dieser Einrichtungen, die Erzieherinnen und Erzieher und die Lehrerinnen und Lehrer, gleichfalls seit Wochen zum Wohle der Mitglieder unserer Gemeinde das Unmögliche möglich.

Sie gewährleisten eine Notbetreuung kleinerer Kinder und stellen sicher, dass die Größeren selbst jetzt, in Abwesenheit eines normalen Schulalltags, weiterhin lernen und sich untereinander und mit den Lehrern austauschen können.

In kürzester Zeit wurden hier digitale Klassenzimmer und Lernräume eingerichtet, die eine fortgesetzte Vermittlung des Lernstoffs ermöglichen. Für diese Umstellungen gab es keine Vorbilder oder Blaupausen. Es ist daher vor allem dem riesigen Arbeitsaufwand der Beteiligten zu danken, dass der Schulbetrieb weitergehen kann.

Jenseits klassischer Arbeitszeiten und Erreichbarkeiten und nah an der persönlichen Schmerzgrenze sorgen die Verantwortlichen dafür, dass der Schaden für unsere Gemeinde und ganz besonders für die Kinder deutlich vermindert wird.

Dies gilt für die Leitung des Hauses des Kindes, Romana Alfred, für die Leiterin des Alexander-Moksel-Kindergartens, Irina Sokolov, für die Leiterin der Sinai-Grundschule, Claudia Bleckmann, und für die Leiterin des Jüdischen Gymnasiums, Miriam Geldmacher – und für ihre großartigen Teams.

In dieser schwierigen Zeit, deren Ende noch nicht abzusehen ist, wissen wir alle, was wir an ihnen haben. Das große Ideal der Bildung in unserer Gemeinde lebt von ihnen! Daher sage ich im Namen des gesamten Vorstandes und aller Gemeindemitglieder: Danke!
Charlotte Knobloch

 

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