Die Sicherheitsvorkehrungen im ohnehin schon gut bewachten Gemeindezentrum im Frankfurter Westend waren am vergangenen Sonntagnachmittag nochmals verschärft worden. Hoher Besuch hatte sich angekündigt. Kurz vor 17 Uhr fuhr die Wagenkolonne des Bundeskanzlers vor. Olaf Scholz stattete der Jüdischen Gemeinde anlässlich des »Tags des Gedenkens« zum 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau einen Besuch ab. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Hessens Kultusminister Armin Schwarz, Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef und Zentralratspräsident Josef Schuster waren gekommen.
Im bis auf den letzten Platz gefüllten Ignatz-Bubis-Saal ging es dann auch um Sicherheit, nämlich die jüdischer Menschen in Deutschland acht Jahrzehnte nach der Schoa. Und die in Israel lebender Juden. Schuster sprach in seiner Rede einige der Bedrohungen an und spannte den Bogen von damals zu heute. »Der Blick auf Auschwitz darf sich in seinem Kern nicht verändern.«
Diese Gewissheit, so der Zentralratspräsident, sei »essenziell« für jüdisches Leben in Deutschland. »Es braucht eine wehrhafte Haltung gegen die Propaganda des ›Schuldkults‹, deren parlamentarischer Arm mit der AfD bereits in Landtagen und im Bundestag sitzt. Gleichzeitig werden deutsche Straßen mit der postkolonialen Verirrung der ›German guilt‹ geflutet.« Die Politik müsse eine klare Sprache gegen die subtile Verwässerung der Erinnerung an die Schoa von extrem links und extrem rechts finden.
»Es braucht eine wehrhafte Haltung gegen die Propaganda des ›Schuldkults‹.«
Zentralratspräsident Josef Schuster
»Wir sind uns im Wesentlichen der Unterstützung der großen Mehrheit der politischen Akteure sicher, müssen aber auch immer wieder Irritationen erleben – sei es im Stil, aber auch in der Substanz. Gerade die Erinnerung an die Schoa, ihre Singularität sowie die Gestaltung und Absicherung der KZ-Gedenkstätten müssen über jeden Zweifel erhaben sein«, so Schuster.
Daran anknüpfend betonte der Kanzler in seiner Rede: »Ich trete jedem Schlussstrich entgegen.« Anschließend nahm Scholz an einer rund einstündigen Podiumsdiskussion mit dem Co-Vorsitzenden der Gemeinde, Benjamin Graumann, dem Frankfurter Publizisten und Rechtsanwalt Michel Friedman und der Schauspielerin Sarah MariaSander teil, die von der Schriftstellerin Thea Dorn moderiert wurde.
Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland
Sander, die seit dem 7. Oktober 2023 viel Zeit in Israel verbringt und darüber in den sozialen Medien berichtet, wurde deutlich: »Der israelbezogene Antisemitismus ist die Grundlage für die Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland. Es sind die Menschen, die mir drohen, mich und meine Familie zu töten, nur weil ich Zionistin bin, die mich als ›dreckige Jüdin‹ beschimpfen und gleichzeitig ›Free Palestine‹ rufen. Es sind Politiker, die den Antisemitismus anprangern, aber den Hass auf Israel nicht damit in Verbindung bringen.«
Der Hass der Hamas wüte nicht nur in Israel, sondern zum Beispiel auch in ihrer Heimatstadt Berlin, sagte sie. Dagegen helfe es nicht, sich »in leeren Phrasen und falscher politischer Korrektheit zu verlieren«, sagte die 29-Jährige. Ihre Generation habe keinen Judenretter, keinen Oskar Schindler, sondern müsse sich selbst verteidigen. »Wir müssen klar benennen, was uns bedroht. Es geht nicht nur darum, ob wir leben können, sondern wie. Ich will in Würde leben, ohne mich und meine Identität verstecken zu müssen, aber das ist aktuell nicht möglich.« Sie selbst erhalte zahlreiche Hassbotschaften.
Auch Michel Friedman, dessen Eltern auf Schindlers berühmter Liste standen und nur deshalb die Schoa überlebten, wurde in Anwesenheit des Bundeskanzlers deutlich. »Deutschland hat hohes Fieber«, diagnostizierte er. Der Zustand jüdischen Lebens sei eine der wichtigsten Merkmale, um zu erkennen, ob eine Demokratie ihre eigenen Werte lebe.
Handlungswille des Staates im Kampf gegen Antisemitismus
Friedman zog sodann den Handlungswillen des Staates im Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus in Zweifel. Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der »in den Konzentrationslagern tätigen Mörder und Helfer« sei nach dem Ende der NS-Herrschaft überhaupt vor Gericht gestellt worden. Und die Gesetze gegen Hass und Hetze würden zwar ständig verschärft. Konsequent angewendet würden sie aber nicht. »Irgendjemand muss doch dafür verantwortlich sein, dass in diesen 80 Jahren nach Auschwitz jüdisches Leben schlechter ist, gefährdeter, bedrohter und perspektivloser«, monierte Friedman.
Trotz der Beteuerungen, man habe die Lehren aus der Geschichte gezogen, sei von den Versprechungen der Politik sehr wenig übrig geblieben, kritisierte er. Das erkenne man schon daran, dass in den letzten drei Jahrzehnten die Sicherheitsmauern für jüdisches Leben immer höher gezogen werden mussten. »Nicht mehr wegschauen, das höre ich nun seit 50 Jahren. Aber irgendjemand schaut zu viel weg!« Die Behauptung vieler Politiker, es gebe keinen Platz für Antisemitismus, sei schlicht falsch: »Es gibt jeden Tag seit der Befreiung von Auschwitz Platz für Judenhass in Deutschland.«
Das sei ihm akut bewusst geworden, als der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung und die Berliner Polizeipräsidentin – »also der Staat« – mitgeteilt hätten, dass jüdisches Leben nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit sicher sei. Eigentlich, so Friedman, fordere er als Bürger dieses Landes nur etwas Selbstverständliches ein.
Olaf Scholz bemühte sich in der Podiumsdiskussion, ohne Phrasen auszukommen. Nicht immer gelang es ihm. In seiner Rede zuvor hatte der SPD-Politiker eingestanden, dass man von dem Anspruch, dass jüdisches Leben in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sei, weit entfernt sei, was, wie er hinzufügte, »empörend« sei. Diesbezügliche Versäumnisse müssten »aufgearbeitet werden«.
Konkret nannte Scholz den Bereich Bildung. »Es war naiv zu glauben, in einer Einwanderungsgesellschaft würden irgendwann schon alle die gleiche Perspektive auf unsere Geschichte einnehmen, nur weil sie hier wohnen. Ich finde es gut, dass die Kultusministerkonferenz anlässlich des Jahrestags des brutalen Terrorangriffs der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober noch einmal bekräftigt hat, den Umgang mit Antisemitismus, Judentum, jüdischer Geschichte und jüdischer Gegenwart – dazu gehört natürlich auch der Staat Israel – in allen Schulfächern, die dafür infrage kommen, zu verankern«, sagte Scholz.
Forderung nach einer Verschärfung der Gesetze
Auf die Forderung nach einer Verschärfung der Gesetze antwortete der Kanzler, dass man das, was juristisch machbar sei, auch auf den Weg gebracht habe, und man gern noch weitergehen wolle. Gesetze allein reichten aber nicht, man müsse auch »die Dinge ansprechen« und jenen verbal entgegentreten, die sich antisemitisch äußerten. Dann kam Scholz auf die Kasseler Kunstschau »documenta fifteen« zu sprechen, die 2022 wegen antisemitischer Bildsprache für einen Skandal sorgte. »Ich bin seit meinem 25. Lebensjahr immer zur documenta gefahren. Diesmal nicht.«
Für ihn sei es »schon etwas sehr Bedrückendes« gewesen, was dort vorgefallen sei. »Ich war wirklich angefasst und finde, dass man die Sache auch nicht verniedlichen darf unter dem Gesichtspunkt, dass das in anderen Ländern anders gesehen wird. Die Darstellung von Juden, die auf den Bildern zu sehen waren, ist nirgendwo akzeptabel«, betonte der Kanzler. Man dürfe sich damit »niemals« abfinden. Zwar müsse der Staat auch Kunst finanzieren, die er nicht gut finde. »Aber es gibt trotzdem Punkte, wo man sagen kann: Das akzeptiere ich nicht«, meinte Scholz.
Die Moderatorin hakte nach. Thea Dorn wollte vom Bundeskanzler wissen, ob er angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Kassel in dem Gemälde mit antisemitischer Bildsprache kein Merkmal der Volksverhetzung erkennen konnte, den Volksverhetzungsparagrafen im Strafgesetzbuch zu reformieren gedenke.
Prinzip der Gewaltenteilung
Festlegen wollte sich Olaf Scholz darauf nicht. Er zeigte sich aber grundsätzlich offen. »Das ist eine Diskussion wert, wenn ich das ausdrücklich sagen darf. Mein Gefühl ist, dass die Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht zutreffend ist. Um das deutlich zu sagen: Ich hätte das anders gesehen.« Aber es gelte nun einmal das Prinzip der Gewaltenteilung, und als Vertreter der Bundesregierung sei er nicht zuständig, »wenn ich das mal so sagen darf«.
Zum Schluss hob Scholz zu einem Exkurs an zur Frage der Regulierung des Internets und der von Tech-Moguln wie Meta-Chef Mark Zuckerberg geforderten Aufweichung in der EU von Bestimmungen zum Schutz gegen Hass und Hetze im Internet. »Die Frage wird uns erreichen, schneller als wir denken. Denn es kann ja passieren, dass eine mit uns befreundete Nation die Auffassung vertritt, dass schon die Regeln, die wir im Hinblick auf das Internet in Deutschland und Europa haben, ein zu weitreichender Eingriff in die Meinungsfreiheit seien«, sagte Scholz.
»Ich bin seit meinem 25. Lebensjahr immer zur documenta gefahren. Diesmal nicht.«
Bundeskanzler Olaf Scholz
Auch auf Elon Musk ging Scholz ein, jedoch ohne den X-Chef und Donald-Trump-Berater, der ihn vor einigen Wochen hart angegriffen hatte, beim Namen zu nennen. »Beleidigungen des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten durch einen ausländischen Milliardär, der soziale Medien betreibt, sind nicht das größte Problem. Aber sie zeigen vielleicht, was da auf uns zukommt«, so Scholz. Er werbe dafür, in den bevorstehenden Diskussionen mit den Amerikanern einen klaren Standpunkt zu vertreten. »Immer muss der kategorische Imperativ gelten: Das, was wir im Hinblick auf andere vorschreiben, muss auch uns gegenüber gelten.«
Dann wurden die rund 500 Zuhörer im Gemeindezentrum in die kalte Nacht entlassen. Zuvor konnte Marc Grünbaum, der Co-Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, noch eine gute Nachricht verkünden: Drei weibliche Geiseln waren kurz zuvor aus der Gewalt der Hamas entlassen worden.
Auch Olaf Scholz brachte seine Freude darüber zum Ausdruck. »Es bleibt eine bittere Wahrheit, dass ein furchtbarer Terrorangriff Ursache all dieses Leids ist. Er hatte als Ziel die Entmenschlichung. Darauf war er ausgerichtet. Das werden wir niemals vergessen.«