Der Tod war die Regel, das Überleben die Ausnahme. Die Geschichten der Überlebenden, die nicht nur am Jom Haschoa immer wieder erzählt werden müssen, um sie in der Erinnerung zu behalten, sind solche Ausnahmen und gerade deshalb häufig so außergewöhnlich, dass sie Autoren und Filmemacher zur künstlerischen und dramaturgischen Verarbeitung inspirieren.
Auch die Geschichte von Roman Haller, der in diesem Jahr zu Jom Haschoa in der Hauptsynagoge »Ohel Jakob« in München sprach, wurde bereits zu einem Theaterstück verarbeitet, dem die Verfilmung Irena’s Vow 2023 folgte. Erzählt wird dabei die wahre Geschichte der Polin Irena Gut, die zusammen mit dem Wehrmachtsmajor Eduard Rügemer zwölf jüdische Menschen aus dem Ghetto Tarnopol in der heutigen Westukraine schmuggelte und sie zunächst im Keller vom Rügemers Majorsvilla versteckt hielt. »Es ist wichtig, immer wieder zu sagen, dass es auch solche Retter gab«, betonte Haller bei seiner Ansprache. »Nur leider waren es viel zu wenige.«
Für die Zwangsarbeit zu schwach oder krank
Im Ghetto Tarnopol sei allein ein Gefühl vorherrschend gewesen: die Angst. Wer für die Zwangsarbeit zu schwach oder krank war, wurde in das nordöstlich gelegene Vernichtungslager Belzec transportiert. Unter den Versteckten im Keller der Villa waren damals auch die Eltern von Roman Haller, Ida und Lazar Haller, Ida bereits schwanger mit Roman.
In dem mäßig abgeschotteten Versteck erregten die heimlichen Bewohner bald zu viel Aufmerksamkeit. Major Rügemer, selbst Leiter des Heeres-Kraftfahr-Parks, organisierte darum einige Zeit später einen Lkw, um die Gruppe in einem Bunker in einem außerhalb gelegenen Wald unterzubringen.
Haller erinnerte nicht nur an die Opfer der NS-Zeit, sondern auch an die des 7. Oktober 2023.
Wo genau sich Wald und Bunker befanden, vermag Roman Haller bis heute nicht zu sagen. Er kennt damit weder seinen genauen Geburtsort noch seinen Geburtstag, der irgendwann um den 10. Mai 1944 liegen muss. Hallers Geburt bedeutete damals eine neue Gefahr: Während sich bis dahin alle bedeckt halten konnten und es ihnen gelungen war, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, würde ein neugeborener Säugling mit seinen Schreien alle gefährden. Im Versteck wurde erwogen, ihn nach der Geburt zu ersticken. Eine gemeinsame Abstimmung kam aber zu einem anderen Ergebnis: Entweder überleben alle mit dem Kind – oder niemand.
Alle zwölf Versteckten wurden von Soldaten der Sowjetarmee befreit
Für die Geburt selbst wurde ein ukrainischer Förster zu Rate gezogen in der Hoffnung, seine Erfahrung mit Tiergeburten würde in diesem Augenblick nützlich sein. »Wäre ich eine komplizierte Geburt gewesen, hätten meine Mutter und ich keine Chance gehabt«, verdeutlichte Haller in der Synagoge die Brisanz dieser Situation. Doch beide überlebten, und alle zwölf Versteckten wurden schließlich von Soldaten der Sowjetarmee befreit.
Mit dem Ziel Amerika steuerten Ida und Lazar Haller nach dem Krieg die amerikanische Besatzungszone in Deutschland an und kamen zunächst im DP-Camp München-Freimann unter. Das Visum aber verzögerte sich immer weiter, der Vater wurde ungeduldig, fand schließlich Arbeit und eine Wohnung – ausgerechnet am Romanplatz. »Ich war als Kind überzeugt, der Platz wäre nach mir benannt«, erinnerte sich Haller.
Mit der Zeit wurde München sein Zuhause.
Mit der Zeit wurde München sein Zuhause, die Wiedergründung der Münchner Kultusgemeinde am 15. Juli 1945 machte Roman Haller zu einem Mitglied der ersten Stunde. Zwei Bücher sollte er mit dieser Erfahrung des Münchner Judentums nach dem Krieg veröffentlichen: Davidstern und Lederhose. Eine Kindheit in der Nachkriegszeit sowie den Sammelband … und bleiben wollte keiner. Jüdische Lebensgeschichten im Nachkriegsbayern. Ein weiteres Buch über sein Leben hat Roman Haller kürzlich vollendet und wird es bald der Öffentlichkeit vorstellen.
»Heute ist ein Tag des Gedenkens«, sagte Haller zum Auftakt des diesjährigen Jom-Haschoa-Gedenkens. »Aber ich möchte nicht nur an die Opfer jener Zeit erinnern, sondern auch an die Opfer des 7. Oktober 2023, an dem junge und alte Menschen auf brutale Art und Weise ermordet wurden«, unterstrich er und bat auch für sie um eine Schweigeminute.
Die Dringlichkeit des Erinnerns
Gemeinderabbiner Shmuel Aharon Brodman betonte in seiner Ansprache die Dringlichkeit des Erinnerns: »80 Jahre nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland leben noch über 200.000 Holocaust-Überlebende. Das Durchschnittsalter der Überlebenden liegt derzeit bei 87 Jahren, und mehr als 1400 von ihnen sind über 100 Jahre alt«, zitierte er Zahlen der Jewish Claims Conference, gab aber auch deren Mahnung weiter: »Die Zeit läuft uns davon, um die Stimmen der letzten Generation zu hören, die eine der schlimmsten Gräueltaten der Geschichte miterlebt hat.«
Zwei Jugendliche aus der Gemeinde verlasen Briefe von jungen Menschen aus der Zeit der Schoa. »Es ist unmöglich, unsere Qualen hinauszuschreien«, lautet eine der Zeilen, die zeigen, mit welcher Klarheit das Ausmaß der täglichen Unmenschlichkeiten wahrgenommen wurde. Der Synagogenchor »Schma Kaulenu« unter Leitung von David Rees begleitete das Gedenken musikalisch. Rabbiner Brodman beschloss die Veranstaltung mit dem El Male Rachamim.