Bleib zu Hause

Für Senioren ist Familie im Moment tabu

Hat Videochat mit 85 gelernt: Manfred Friedländer Foto: Rolf Walter

Zu einer Risikogruppe zu gehören, ist für niemanden ein angenehmes Gefühl. Doch wer ein bestimmtes Alter erreicht hat oder ohnehin schon gesundheitlich angeschlagen ist, zählt in Zeiten von Corona automatisch dazu. Vor allem für Senioren gilt deshalb die Empfehlung: so wenig Sozialkontakte wie möglich.

Für viele ist das keine einfache Sache, wenn beispielsweise der Besuch der Kinder und Enkel nun auf unbestimmte Zeit ausfallen muss oder stark eingeschränkt wird. Aber auch andere liebgewonnene Gewohnheiten, die wichtig sind, um dem Alltag Struktur und Abwechslung zu verleihen, müssen derzeit hintanstehen.

SPAZIERGANG Und für manchen älteren jüdischen Berliner kehren damit auch einige unangenehme Erinnerungen zurück, so wie bei Manfred Friedländer. »Als Kind war ich oft von der Außenwelt abgeschottet, um Schutz vor den Nazis zu haben«, sagt der 85-Jährige, der im Jeanette-Wolff-Seniorenzentrum der Jüdischen Gemeinde in der Dernburgstraße lebt. »Jetzt ist das Virus der Grund, warum ich seit Wochen kaum Kontakte nach draußen haben kann.«

Für manchen älteren jüdischen Berliner kehren mit der Krisensituation auch einige unangenehme Erinnerungen zurück.

Auch das Leben im Seniorenzentrum hat sich aufgrund der Pandemie stark verändert. »Wir sollen so wenig wie möglich zusammensitzen, und die Gottesdienste zu Schabbat finden derzeit nicht statt.« Die Kontakte zur Familie sind aufgrund der Pandemie ebenfalls reduziert. Mit seinem Sohn trifft sich Friedländer trotzdem, so oft es geht, zum gemeinsamen Spaziergang.

»Bevor das Ganze mit Corona in Berlin so richtig losging, kam meine Tochter vorbei und hat mir erklärt, wie der Videochat auf WhatsApp funktioniert – das wird jetzt ausgiebig benutzt«, berichtet er voller Stolz darüber, die Technik zu beherrschen. Auch ersetzt das Telefongespräch nun so manchen Arztbesuch, der jetzt wegfällt. »Und damit auch die Schwellenangst, die manchmal dabei aufkommt«, so Friedländers Beobachtung. »Das finde ich im positiven Sinne bemerkenswert.«

ABSTAND Die gemeinsamen Aktivitäten mit anderen vermisst Fanny Matov. »Man sitzt nur noch zu zweit an einem Tisch und muss dabei gehörigen Abstand halten«, berichtet die 77-Jährige, die ebenfalls in der Dernburgstraße wohnt. »Alle Angebote wie etwa Bewegungsübungen können derzeit leider nicht stattfinden.« Trotz der Tatsache, dass sie jetzt in ihrem Bewegungsradius mehr als sonst auf das eigene Zimmer eingeschränkt ist, hält sie an manchen Gewohnheiten fest.

»Ich lese weiterhin sehr viel, höre tagsüber meine Konzerte im Radio und gehe nun allein viel spazieren, zum Beispiel zum Lietzensee in der Nähe.« Ihr Motto lautet: »So aktiv bleiben, wie es gerade erlaubt ist, und verhindern, dass man sich womöglich mit seinen Gedanken im Kreis dreht.« Ihren Sohn trifft sie ebenso oft wie vor der Corona-Krise.

Trotz der Tatsache, dass sie jetzt in ihrem Bewegungsradius mehr als sonst auf das eigene Zimmer eingeschränkt ist, hält sie an manchen Gewohnheiten fest.

»Am meisten bedauere ich aber, dass gerade kein richtiger Kabbalat Schabbat möglich ist und wir unsere Traditionen nur sehr eingeschränkt leben können. Auch würde ich mir noch mehr konkrete Informationen seitens der Heimleitung über die beschlossenen Maßnahmen zu unserem Schutz wünschen. Aber irgendwann ist der Spuk ja auch wieder vorbei.«

ENKEL Wer jetzt nicht in einem Seniorenzentrum lebt, ist manchmal umso stärker als sonst auf die Unterstützung seiner Angehörigen angewiesen. »Meine beiden Söhne helfen uns, wo sie nur können«, berichtet der 71-jährige Isak Ronis. »Sie kaufen ein und stellen die Sachen anschließend vor die Tür.« Die Enkel sind dann ebenfalls oft mit dabei. Doch direkten Körperkontakt gibt es nicht. »Wir winken uns alle nur aus der Distanz zu. Familie ist im Moment tabu.«

Der Grund: Seine Frau hatte vergangenes Jahr eine schwere Erkrankung, weshalb jede Infektion eine enorme Gefahr bedeutet. »Ich pflege sie weiterhin und muss daher auch aufpassen, kein Virus mit nach Hause zu bringen.« Die gewohnten Freiheiten fehlen Ronis sehr. »Umso mehr freue ich mich auf den Moment, wieder mit meiner Frau ins Grüne rausfahren zu können und unter Menschen zu sein.« Dann auch mit der Familie.

Buchvorstellung

Sprache, Fleiß und eine deutsche Geschichte

Mihail Groys sprach im Café »Nash« im Münchener Stadtmuseum über seine persönlichen Erfahrungen in der neuen Heimat

von Nora Niemann  20.10.2025

Chemnitz

Erinnerungen an Justin Sonder

Neben der Bronzeplastik für den Schoa-Überlebenden informiert nun eine Stele über das Leben des Zeitzeugen

 19.10.2025

Porträt der Woche

Leben mit allen Sinnen

Susanne Jakubowski war Architektin, liebt Tanz und die mediterrane Küche

von Brigitte Jähnigen  19.10.2025

Miteinander

Helfen aus Leidenschaft

Ein Ehrenamt kann glücklich machen – andere und einen selbst. Menschen, die sich freiwillig engagieren, erzählen, warum das so ist und was sie auf die Beine stellen

von Christine Schmitt  19.10.2025

Architektur

Wundervolles Mosaik

In seinem neuen Buch porträtiert Alex Jacobowitz 100 Synagogen in Deutschland. Ein Auszug

von Alex Jacobowitz  17.10.2025

Nova Exhibition

Re’im, 6 Uhr 29

Am 7. Oktober 2023 feierten junge Menschen das Leben. Dann überfielen Hamas-Terroristen das Festival im Süden Israels. Eine Ausstellung in Berlin-Tempelhof zeigt den Horror

von Sören Kittel  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Erinnerung

Gedenken an erste Deportationen aus Berlin am »Gleis 17«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte mit Blick auf das Erstarken der AfD und wachsenden Antisemitismus vor einer brüchigen Erinnerungskultur

 16.10.2025

Bonn

Hunderte Menschen besuchen Laubhüttenfest

Der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde in Bonn, Jakov Barasch, forderte mehr Solidarität. Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hätten sich hierzulande immer mehr Jüdinnen und Juden aus Angst vor Übergriffen ins Private zurückgezogen

 13.10.2025