Genealogie

Familiengeschichten

Blick auf das Gelände des Alten Israelitischen Friedhofs in der Thalkirchner Straße Foto: Stanislav Mishchenko - IKG-Kulturzentrum

Ancestry und MyHeritage haben sicher einen nicht unerheblichen Anteil am Ahnenforschungs-Boom. Hinzu kommt, dass man aus allen Ecken der Welt E-Mails versenden kann. So ist der Alte Israelitische Friedhof an der Thalkirchner Straße seit geraumer Zeit in den Fokus eines neuen Interesses geraten.

Als die 2018 verstorbene Friedhofsverwalterin Johanna Angermeier 1966 die Betreuung des Geländes übernahm, hatte sie noch eine rege Korrespondenz mit Ex-Münchnern von den USA über England bis Israel, schickte Fotos von den Grabsteinen und sorgte für die Instandhaltung, soweit sich Nachfahren meldeten und dies wünschten.

Bei der Grabanlage der Familie Strauss kann man das bis heute noch sehen. Dort hatte eine Schoa-Überlebende aus München, die mit ihrem Mann, einem polnischen Juden, in der Nachkriegszeit nach New York ausgewandert war, eine kleine Sitzbank installieren lassen. Wenn die Hochbetagte nach München kam, konnte sie dort länger verweilen. Irgendwann gab es keinen Auftrag mehr, Stiefmütterchen auf die Grabfläche zu pflanzen, das Bänkchen verwittert. Es gibt niemanden mehr, der sich kümmern kann.

GRABSTÄTTEN So ist das mit vielen der über 4000 Gräber, an denen zunehmend der Zahn der Zeit nagt und die Regen und Frost zum Opfer fallen. Der Friedhof, ein Jahr nach Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde 1815 angelegt, war ursprünglich für rund 1000 Grabstätten vorgesehen.

Doch mit Aufhebung des Judenmatrikels 1861 und dem daraus folgenden steigenden Zuzug in die Residenzstadt München musste die Anlage mehrfach erweitert werden, zuletzt 1880. Im Zuge dessen wurden eine 580 Meter lange Einfriedungsmauer, ein dreitüriges Portal und vor allem eine Trauerhalle im Neorenaissance-Stil errichtet. Schließlich reichte auch das nicht mehr, ab 1908 kam der Neue Israelitische Friedhof in Freimann dazu.

Das Landesamt für Denkmalpflege arbeitet an der kartografischen Erfassung der Friedhöfe.

Wenn sich heute Interessierte auf der Suche nach ihren jüdischen Vorfahren melden, muss man oft auf beiden Friedhöfen recherchieren, weil am Alten Friedhof ab den 1910er-Jahren im Prinzip nur noch Zubettungen möglich waren. Oft ergeben sich aus Anfragen spannende Erkenntnisse. So etwa im Jahr 2022 bei zwei Anfragen zur Familie Fraenkel, die in der Geschichte der Münchner Kehilla eine bedeutende Rolle spielte.

Es stellte sich heraus, dass zwei besonders rührige Nachfahrinnen, die zeitgleich aus Israel nach München gekommen waren, einander gar nicht persönlich kannten. So wurde der Besuch an den Familiengräbern zu einer Art Familienzusammenführung. Jede hatte andere Episoden aus der Vorgeschichte.

Und auf diese Weise kam auf der Suche nach dem Grab des Kommerzienrats Siegmund Fraenkel (1860–1925) ein ganzes Familiendrama zur Sprache. Links von ihm ruht eine aus gesundheitlichen Gründen früh verstorbene Nichte, rechts sein Neffe Richard (1900–1917), der mit drei seiner Cousins zum Wandern in den Bergen unterwegs war und ein Schneebrett, das alle mitriss, nicht überlebte.

KABINETTAUSSTELLUNG Erst vor Kurzem hatten sich acht Interessierte unter Leitung von Bill Getreuer, dem »Familienhistoriker«, an die Friedhofsverwaltung gewandt. Dessen Ururgroßmutter Rosa Klauber (1820–1901) war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, der das Jüdische Museum München 2021 sogar eine eigene Kabinettausstellung widmete.

Sie war Mitte des 19. Jahrhunderts aus Böhmen zugewandert, begann als Händlerin auf der Auer Dult und arbeitete sich mit der 1859 gegründeten Firma zur »königlich bayerischen Hoflieferantin« hoch.

Das spiegelt auch der Grabstein der Geschäftsfrau wider, die 15 Kinder gebar und für ihren nach einem Unfall arbeitsunfähigen Mann Elias (1816–1887) sorgte. Die Suche nach den Gräbern war zeitintensiv, weil die Ururgroßeltern väterlicherseits, Rosa und Elias, in zwei anderen Sektionen liegen als die Ururgroßeltern mütterlicherseits, Marie und Isaac Weisenbeck. Manche Gräber sind nur noch über das Sterberegister ausfindig zu machen, weil der Grabstein fehlt oder so verwittert ist, dass die Inschrift kaum noch entziffert werden kann.

INSCHRIFTEN Andere Inschriften enthüllen ganze Dramen. Für Wilhelm Hausner (1857–1914) und seine Frau Emma, geborene Weisenbeck, war offenbar ein Doppelgrab vorgesehen. Nun erinnert die Inschrift mit an die am 1. Juli 1942 nach Theresienstadt Deportierte. Dafür fand der Sohn Justin (1897–1978) im Doppelgrab mit seinem Vater seine letzte Ruhestätte. Ähnliches gilt für die letzte Beerdigung 2020 im Grab des 1916 verstorbenen Justizrats Julius Siegel. Sein Enkel Uri (1922–2020) hatte verfügt, dass er den freien Platz seiner Großmutter, die sich in der NS-Zeit in die Schweiz hatte retten können und dort auch begraben ist, belegen wolle.

So entfalten sich rund um diesen Friedhof, der für die Öffentlichkeit nur im Rahmen geführter Rundgänge zugänglich ist, vergleichsweise viele Aktivitäten. Die nächste größere Anfrage aus den USA zur Familie des Bäckermeisters Simon Brandeis (1812–1891) und seiner Großfamilie liegt schon vor und wartet auf Beantwortung. Außerdem startete das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege im Frühjahr 2020 ein Projekt zur kartografischen Erfassung aller jüdischen Friedhöfe in Bayern. Zum Abschluss ist München an der Reihe.

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